Michael Sagenhorn/ März 25, 2024/ Kino und Film/ 0Kommentare

2001 / FSK 0 / 124 Minuten

Nach Erinnerungen an Marnie und Prinzessin Mononoke möchte ich nun den dritten Film meiner Top 3 Ghibli-Filme vorstellen: Chihiros Reise ins Zauberland.
In diesem Abenteuer vermischen sich Märchenmotive, die wir auch aus westlichen Kulturen kennen, mit fernöstlichen Legenden. Man könnte die Geschichte auch nennen: „Alice im Wunderland trifft die Shinto-Götter“. Nur dass Alice hier ‚Chihiro‘ heißt, und das Kaninchenloch in dieser Geschichte der lange Tunnel zu einem geheimnisvollen Badehaus ist.

Handlung

Die zehnjährige Chihiro zieht mit ihren Eltern in eine neue Stadt. Während sie bedrückt auf der Rückbank des Autos vor sich hin grübelt, verfährt sich ihr Vater auf der Suche nach der neuen Bleibe und lenkt den Wagen in einen stillen Waldweg. Chihiro fallen die kleinen Statuen der Kami (Shinto Götter) ins Auge, die am Straßenrand Spalier stehen, während die Straße sich immer tiefer in verwilderte Regionen vorarbeitet, bis sie schließlich vor einem abgesperrten Tunnel endet.

Gegen Chihiros Rat erkunden die Eltern diesen Tunnel. Er soll zu einem Badehaus führen. Chihiro bleibt nichts anders übrig, als ihren Eltern ängstlich zu folgen. Am Ende des Gangs erwartet das Mädchen aber nicht das Badehaus, sondern eine weite Wiese. In der Ferne erspäht die Familie ein Dorf. Was zu diesem Zeitpunkt noch keiner von ihnen ahnt: Sie haben bereits die Welt der Götter betreten.

Noch ist das Dorf einsam und verlassen. Die drei betreten menschenleere aber gut gepflegte Straßen, und da der Duft von Essen lockt, beschließen Chihiros Eltern bei einem Imbiss zu rasten. Ungefragt stopfen sie sich mit Köstlichkeiten voll, während Chihiro das Dorf weiter erkundet.
Hier trifft sie den Jungen Haku. Haku warnt Chihiro, dass sie noch vor Einbruch der Dunkelheit das Dorf verlassen müsse. Sofort rennt das Mädchen zurück zu ihren Eltern, doch sie erkennt entsetzt, dass sich die beiden derweil in Schweine verwandelt haben, als Strafe dafür, sich ungefragt am Festmahl der Götter vergriffen zu haben.

Mit hereinbrechender Dunkelheit erscheinen aus dem Nichts schattenhafte Gestalten, und eine Karawane der Götter zieht in Richtung des Dorfes, mit Pomp und Musik. Ihr Ziel ist vor allem das Badehaus Aburaya.
In diesem Badehaus lebt Haku. Er kann das verschreckte Mädchen dorthin in Sicherheit bringen. Haku rät ihr, im Badehaus um Arbeit zu bitten, dann ist Chihiro auf sich alleine gestellt, weil er sie hastig verlassen muss.
Doch bevor Chihiro hier arbeiten kann, muss sie sich bei der Betreiberin, der Hexe Yubaba, persönlich vorstellen. Yubaba zwingt dem Mädchen einen Vertrag auf, bei dem sie ihren Wahren Namen einbüßt. Ab jetzt heißt Chihiro einfach Sen.
Sen hat nichtmehr viel Zeit, wenn sie einen Weg finden will, die Verwandlung ihren Eltern rückgängig zu machen. Denn mit dem neuen Namen vergisst sie allmählich ihren alten Namen und auch sich selbst. Wenn sie alles restlos vergessen hat, sind ihre Eltern für immer verloren…

Die Welt der Shinto-Götter

Es gibt etwa acht Millionen Shinto-Gottheiten. Dementsprechend vielseitig und kreativ fallen die Figuren in Chihiros Reise ins Zauberland aus. Im Zauberland existieren geheimnisvolle Kami, die aussehen können wie Gespenster und unter anderem Seelen von Verstorbenen repräsentieren. Dem entgegen stehen die niedlichen Rußmännchen von Kesselmeister Kamaji, der wiederum eine Kreuzung zwischen Mensch und Spinne ist. Die Rußmännchen selbst sind flauschig aussehende Rußkügelchen auf dürren Beinen mit drolligen großen Augen.
In diesem Wunderland der Götter treffen wir auf Yokai, in Form von Dämonen und Tieren. Es gibt sprechende Frösche, springende Köpfe, riesenhafte Hühnerküken, einen vermeintlichen Faulgott, hüpfende Laternen und vieles, vieles mehr aus der japanischen Mythologie.
Dementsprechend passend ist auch der nächtliche Einzug zu Yubabas Badehaus. Er erinnert mich stark an die sog. Nachtparade der 1000 Dämonen, die seit Jahrhunderten ein beliebtes Thema in japanischen Texten und Bildern ist.

Ohngesicht und Rußmännchen

Die im Film interessanteste Sagengestalt ist für mich das Ohngesicht. Ohngesicht ist ein dunkler, durchscheinender Geist mit einer weißen Theatermaske. Er wird von Chihiro arglos ins Badehaus gelassen. Seitdem hat er einen Narren an ihr gefressen, und will ihre Freundschaft gewinnen.
Auch wenn es nicht direkt erwähnt wird, wird aus der Handlung deutlich klar, dass er ein einsames Wesen ohne Freunde ist. Einmal im Badehaus will er sich Freundschaft erkaufen, indem er Dreck in Gold verwandelt.
Die meisten Angestellten des Badehauses lassen sich davon betören, nicht jedoch Chihiro. Als Ohngesicht merkt, dass Chihiro mit Gold nicht zu gewinnen ist, wird er zornig und fängt an im Badehaus Amok zu laufen.
Wie ein Kind lässt er seinen Gefühlen freien Lauf. Daher kann man Angst vor ihm bekommen, obwohl er tief im Inneren ein herzensgutes Wesen ist. Das macht Ohngesicht im Grunde so sympathisch.

Die Macht des Wahren Namens

Dank ihrer Anstellung im Badehaus darf Chihiro im Zauberland Reikai bleiben. Doch mit der Unterschrift unter dem Vertrag büßt Chihiro ihren Wahren Namen ein. Von nun an ist sie nur noch Sen. Diesen Namen hat ihr die Hexe Yubaba gegeben. Yubaba erlangt durch das Einbehalten der Wahren Namen ihrer Angestellten Macht über sie.
Diese bekannte Regel ist in neuen und alten Mythologien vieler Kulturen zu finden. Meist sind von dieser Regel betroffen Dämonen, Feen, Dschinn und ähnliche phantastische Wesen. Mit der Kenntnis des Wahren Namen über eine Kreatur kann diese beherrscht, gebannt oder sogar vernichtet werden. Dementsprechend verraten Wesen, die dieser Regeln unterworfen sind, ihren Wahren Namen nur ihren engsten Vertrauten.
Studio Ghibli nutzt diese Regel, um zusätzlich Spannung aufzubauen, aber auch um die Beziehungen einiger Charaktere untereinander zu vertiefen.
Der Verlust des Wahren Namens bedeutet für Chihiro, den allmählichen Verlust ihrer Identität und ihrer Erinnerungen. Die Dramatik entsteht, wie so oft bei solchen Geschichten, aufgrund des Wettlaufs gegen die Zeit. Gelingt es Chihiro noch rechtzeitig ihre Familie zu retten? Oder verpasst sie den ihr zur Verfügung stehenden Zeitrahmen, und verliert sich selbst, und ihre Eltern, die sich an ihr Leben als Mensch nicht mehr erinnern können, und als Gang für das göttliche Bankett ausgewählt wurden?

Fazit

Chihiros Reise ins Zauberland ist meiner Ansicht nach der fantasievollste Trickfilm aus der Traumschmiede von Studio Ghibli.
Das Erwachsenwerden spielt eine wichtige Rolle. Chihiro muss sich ohne Eltern in einer fremden Welt zurechtfinden, und ist plötzlich gezwungen Aufgaben zu meistern, von denen man annehmen möchte, dass Menschen in Chihiros Alter ihnen noch nicht gewachsen sind. Gerade deshalb macht uns die Geschichte auch Mut, unseren eigenen Weg zu finden, auch wenn dieser einmal steinig ist oder gar unerreichbar scheint.
In meiner Rezension über die Star Wars Serie Kenobi habe ich in Bezug auf die ebenfalls zehnjährige Lea geschrieben, dass man Kindern gerne etwas zutrauen könne. Doch im Gegensatz zu besagter Star Wars Geschichte, in der das Kind unrealistisch taff und reif für ein zehnjähriges Mädchen dargestellt wird, macht dieser Film alles richtig, weil er Chihiro lebensecht porträtiert. Mutig, sympathisch, hilfsbereit und entschlossen, geht das Mädchen ihren Weg durch diese wunderschöne Geschichte, die ich euch allen nur ans Herz legen kann.

Chihiros Reise ins Zauberland ist auf Blu-Ray und DVD erhältlich und kann u.a. auf Netflix gestreamt werden.

Bildquelle: © LEONINE Studios

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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