2022 / FSK 16 / 2h 19 min
Wir kennen Parallelwelten bereits u.a. durch Star Trek oder neuerdings durch das Marvel Cinematic Universe. Doch auch außerhalb prominenter Franchisenamen greifen einzelne Werke das Thema immer wieder gerne auf. Ein junges Beispiel ist das ungewöhnliche Sci-Fi-Abenteuer Everything Everywhere All at Once.
Handlung
Die in den USA lebende Chinesin Evelyn Wang (Michelle Yeoh) führt ein hektisches und unbefriedigendes Leben als Waschsaloon-Besitzerin. Ihr Mann Waymond (Jonathan Ke Quan) möchte sich scheiden lassen, ihre Tochter Joy (Stephanie Hsu) will das anstehende chinesische Neujahrsfest nutzen, um ihre Geliebte der Familie vorzustellen. Jedoch hat Evelyn Angst, dass ihr kürzlich aus Honkong eingetroffener, pflegebedürftiger Vater Gong Gong (James Hong) eine lesbische Enkelin ablehnen könnte. Darunter leidet das ohnehin schon angespannt Verhältnis zwischen Mutter und Tochter noch mehr.
Zudem sitzt Evelyn die Steuerbehörde im Nacken, weil sie versucht hat, abstruse Ausgaben ihres Privatlebens über ihr Geschäft abzusetzen. Doch während die unnachgiebige Steuerprüferin Deirdre Beaubeirdre (Jamie Lee Curtis) noch versucht Evelyn den Ernst der Lage zu erklären, wird Evelyn in eine Parallelwelt katapultiert. Ein alternativer Ehemann Waymond aus dem Alpha-Universum hat sie -also diese Version von Evelyn- gesucht, denn nur sie kann sich der schier unbesiegbaren Schurkin Jobu Tupaki entgegenstellen und damit alle Welten retten…
Ich habe lange überlegt, wie ich diese Rezension anpacken soll, bzw. wieviel ich spoilern soll. Everything Everywhere All at Once ist seit 12. August 2022 auf Blu-Ray und DVD erhältlich; der Film ist also nicht mehr brandneu. Zudem existieren auf entsprechenden Seiten im Internet nützliche Informationen zum Film und seinen wichtigsten Universen.
Trotzdem möchte ich in meiner Rezension so wenig Details wie möglich verraten. Von Everything Everywhere All at Once wusste ich so gut wie nichts, als ich die Blu-Ray kurz nach dem Erscheinen in den Recorder geschoben habe. Das ist einer der Gründe, warum mir der Film so viel Spaß gemacht hat. Und genau dieses Gefühl will ich niemand nehmen, nur für den Fall, dass ihr ebenfalls noch nicht wisst, was da auf euch zukommt.
Es gab vollkommen verrückte Szenen, bei denen ich zwangsläufig dachte, die Regisseure und Drehbuchautoren Dan Kwan und Daniel Scheinert, können nicht nüchtern gewesen sein, als sie das geschrieben haben. Habe ich einige Elemente von Doctor Strange in the Multiverse of Madness noch als mutlos bezeichnet, wurden hier meine Erwartungen voll und ganz erfüllt.
Eigentlich juckt es mich, ein paar kurzweilige Einzelheiten zu schildern, aber ich halte mich zurück. Stattdessen gehe ich auf Multiversum-Theorien ein, die physikalischen und philosophischen Gedankengängen folgen.
Seit der Antike beschäftigt sich die Menschheit, zumindest im philosophischen Sinne mit der Existenz von Parallelwelten. Die Wissenschaftler heute unterteilen verschiedene theoretische Modelle für Multiversen. Ein bekanntes Modell ist z.B. das Patchworkuniversum, in dem sich unser Universum unendlich ausdehnt, woraus folgt, dass sich Raumregionen irgendwann zwangsläufig wiederholen. Es gäbe also unzählige Erden in diesem unendlichen Universum.
Ein weiteres sehr bekanntes Modell ist das Inflationäre Multiversum, in der eine unendliche Kosmische Inflation ein riesiges Netzwerk aus Universen schafft, von denen jedes für sich in einer Blase existiert. Anhand dieser Theorie wurden vermutlich die Multiversen von Marvel und DC entworfen, – verschiedene Elseworld-Geschichten ausgenommen.
Die bekannteste Theorie, die auch für Everything Everywhere All at Once bedeutend ist, ist jedoch…
Die Viele-Welten-Theorie
Diese Theorie, die auf Quantenmechanik basiert, geht zurück auf den US-amerikanischen Physiker Hugh Everett III. Bei dieser Theorie öffnet jede von uns getroffene Entscheidung oder jeder abweichende Umstand ein neues Universum, gebildet anhand einer Wahrscheinlichkeitswelle, die entsprechende Möglichkeiten verkörpert.
Kleines Beispiel: Wir warten auf einen Bus. Der Bus kommt. Nun können wir in den Bus steigen und die geplante Route fortsetzen. Oder wir bemerken, dass wir unsere Geldbörse vergessen haben, und entscheiden uns daher, zurück in die Wohnung zu gehen und die Geldbörse zu holen. Mit dieser Entscheidung öffnen wir ein neues Universum. Im Universum A, in dem wir sofort in den Bus gestiegen sind, bemerken wir das Fehlen der Geldbörse erst später, und stehen nun ohne Geld da. Im Universum B kommen wir zwar später ans Ziel, haben aber Geld, um vielleicht einen geselligen Abend zu finanzieren, ohne dass Freunde uns aushelfen müssen.
Genau das ist die Grundlage des Films. Unsere Evelyn hat mit jeder Entscheidung in ihrem Leben ein neues Universum eröffnet. Dabei ist unsere Evelyn noch nicht einmal die ‚Basis-Evelyn‘. Diese hat aus dem sog. Alpha-Universum heraus das Multiversum entdeckt, ist aber zwischenzeitlich verstorben. Daher sucht der Ehemann aus dem Alpha-Universum in den endlosen Universen einen Ersatz für seine Frau, – den er glaubt in unserer Evelyn gefunden zu haben.
Unsere Evelyn kann sich wiederum die Erfahrungen ihrer anderen Ichs aneignen, wenn sie deren Welten besucht. So kann sie z.B. plötzlich Kampfsport, nachdem sie die Welt besucht hat, auf der sie eine Kampfsportspezialisten ist.
Leider versäumt es dieser turbulente und schnelle Streifen, die Viele-Welten-Theorie umfassend zu vermitteln, sondern schneidet sie nur an. Zuschauer, die überhaupt keine Kenntnisse über Multiversen haben, könnten hier an ihre Grenzen stoßen, und die Geschichte als einen einzigen Unsinn abtun. Ich würde es ihnen nicht verübeln.
‚Unsinn‘ mit viel Tiefgang
Obwohl die Handlung stellenweise grotesk ist, und der Film sich mit heiteren Szenen teilweise selbst aufs Korn nimmt, wird uns dennoch eine tiefgründige Geschichte erzählt.
Evelyn ist keine Superheldin, sondern ein Mensch, wie du und ich. In den wenigen ruhigen Momenten des Films lernen wir sie näher kennen. Mit ihrer unperfekten und kauzigen Art stolpert sie besonders gern ungeschickt über ihre Beziehung zu den Menschen, die ihr am nächsten stehen. Gerade mit ihrem Mann und ihrer Tochter hat sie massive Probleme.
Diese zu bewältigen ist der eigentliche Kern der Geschichte. Nur vordergründig geht es um die Rettung aller Universen. Für Evelyn geht es um die Rettung ihrer wichtigsten Beziehungen.
Quer durch alle Welten, verfolgen wir im Showdown alle Evelyns die zeitgleich versuchen, ihre Fehler zu bereinigen und die Handlung zum Guten zu wenden. Gerade zum Ende hin wird der Titel Programm.
Trotz dieser vielen Welten und dieser vielen Evelyns, und der sich daraus ergebenden unterschiedlichen Einzelszenarien, darf der rote Faden der Geschichte nicht verloren gehen, damit die Zuschauer der Handlung noch folgen können. So einen Ablauf zu inszenieren erfordert viel Können. Die Macher haben diese Hürde in meinen Augen erfolgreich gemeistert. Respekt!
Respekt auch für die Darsteller, allen voran für die Hauptdarstellerin Michelle Yeoh. Michelle Yeoh konnte ja schon Erfahrung mit Parallelwelten sammeln, durch ihr Mitwirken bei der Serie Star Trek Discovery. Aber dieser Film erfordert eine ganz andere darstellerische Tiefe.
Besonders erwähnen möchte ich auch noch James Hong, der Evelyns Vater Gong Gong verkörpert. Der über 90-jährige Schauspieler ist seit über 50 Jahren im Filmgeschäft, und mit seinen über 500 Rollen, – hauptsächlichen Nebenrollen, ist er der Darsteller mit den meisten Rollen in Hollywood.
Fazit
Auch wenn aufgrund des Marvel-Hypes Geschichten vom Multiversum gerade im Trend liegen, erzählt Everything Everywhere All at Once eine Geschichte, die es in dieser Form noch nicht gegeben hat. Wer sich für verrückte Geschichten begeistern kann, ist hier sicher richtig.
Bildquelle: © LEONINE Studios