Michael Sagenhorn/ Oktober 3, 2022/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genre: Science-Fiction, Groteske geeignet ab 16 Jahren

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Teil I – Erde

„Winland!“ flötete zart eine attraktive Frauenstimme. „Winland Regnum, es ist Zeit auf zu stehen!“

Winland drehte sich grunzend im Bett und schlug missmutig die Augen auf.

„Du willst sicher nicht zu spät zur Morgenmesse erscheinen“, mahnte die Stimme, der trotz ihrer Wärme etwas Synthetisches anhaftete.

Insgeheim verfluchte der junge Mann die Stimme, aber nur sehr vorsichtig, denn sie kam aus einem Chip, der ihm als Säugling in den Kopf gepflanzt worden war. Der verstand sich nicht nur darauf, ihn jeden Morgen aus dem erlösenden Schlaf zu reißen, sondern er zeichnete auch seine Emotionen auf und sendete diese, wenn er es zum Wohle seines Besitzers für erforderlich hielt, an die zentrale Auswertungsstelle der humanitären Kommission.

„Ins Bad mit dir, Winland! Und vergiss die Haarpflege nicht. Am besten mit Haarpracht Schaumshampoo! Denn Haarpracht Schaumshampoo pflegt die Haare, von den Wurzeln bis in die Spitzen, und sorgt für einen glänzend seidenen Look.“

Kurz flimmerten Bilder von beschwingten Menschen vor Winlands Augen auf, denen nichts mehr Freude zu bereiten schien, als sich die Haare zu waschen – mit dem Schaumshampoo von Haarpracht.

*

Die Gebetskuppel gehörte zu den größten Bauten der Stadt. Als Winland die unermessliche Halle betrat, hatte die Messe bereits begonnen, aber glücklicher Weise hatte er nur das einleitende Orgelspiel verpasst. Er hätte es sich nicht leisten können, sich noch einmal zu verspäten. In diesem Jahr hatte er schon zwei Mal die einleitenden Worte des Predigers versäumt, worauf er vom Sevarkonzern, seinem Arbeitgeber, strengstens ermahnt worden war.

Über zwei Millionen Gläubige summten in der, bis zum letzten Platz belegten Kuppel, einträchtig zur Melodie der Orgel, deren größte Pfeifen ein fünfzigstöckiges Hochhaus mit Leichtigkeit verschlucken hätten können. Der Blick der Masse war nach unten gerichtet, zur Mitte der Kuppel auf ein kreisrundes Plateau. Darin thronte ein goldenes, mit reichhaltigen Gravuren übersätes Dollarzeichen, so hoch wie ein Turm, das im Licht der hellen Strahler funkelte. Der Prediger betrat den Tempel, schritt langsam und würdevoll um das Dollarzeichen herum und hob gebieterisch die Hand. Das willfährige Summen verstummte, die Worte des Predigers aber, hallten von der Kuppel wider: 

„Es gab eine nicht all zu weit zurück liegende Zeit, da waren die Menschen noch primitiv und einfältig. Sie verehrten einen abstrakten, formlosen Gott, mit unzähligen Namen. Unsere Ahnen waren von ihrer Lehre so geblendet, dass sie sogar an ein Weiterleben nach dem Tod glaubten.

Von ihrem eigenen Wahnsinn verzehrt, kreisten ihre Gedanken um die Erlösung von allen Leid, die ihnen ihr Gott nach dem irdischen Dasein bescheren werde.“

Die Masse heulte und buhte.

„Meine Kinder! Heute leben wir zum Glück in einem aufgeklärten Zeitalter. Seit die ehrwürdige Wissenschaft bewiesen hat, dass es kein Leben nach dem Tode gibt, – keine Belohnung der Guten, -keine Bestrafung der Bösen, kennen wir den einzig wahren Erlöser!“

Der Prediger deutete auf das Dollarzeichen. Da applaudierte die Masse und jauchzte vor Freude.

„Wer, meine Kinder, bringt uns wirklich Errettung? Wer sorgt für unser Wohlergehen und dafür, dass es uns an nichts mangelt? Durch wessen Hilfe erhalten wird Nahrung in jedem Supermarkt? Was ist die treibende Kraft unserer Gesellschaft?“

„Dollar!“ rief Winland mit der Masse, denn das wurde von ihm erwartet. Der Chip überwachte jede Regung.

„So ist es! Dollar! Der Einzige, der Großartige ist kein Hirngespinst, wie der Gott der alten Religionen, keine Ausgeburt des Wahnsinns. Dollar wacht über uns (wenn wir ihn haben) und Dollar straft uns (wenn wir ihn nicht haben). Unsere Ahnen die seinen wahren Wert nur erahnten, pressten schnöde seine Göttlichkeit auf Banknoten und Münzen …“, 

Wieder tobte die Masse vor Zorn. 

„Ja! Banknoten und Münzen!“ spukte der Prediger aus „Wir jedoch verbannten diese Götzenbilder und entfernten sie von unserer Welt! Dollar lebt in unserem Geist und unserem Herzen.“

Der Prediger machte eine Pause, das Orgelspiel setzte ein und die Gläubigen sangen den Psalm von der aufgehenden Börse, den bei jedem Gottesdienst vorzutragen nach einer heiligen Bulle Vorschrift war.

Danach herrschte andächtige Stille, der Prediger verkündete weiter: „Liebe Kinder! Doch unter uns weilen Ketzer, wie Diebe versteckt. Sie verbreiten ihre Lügen. Wir alle kennen diese Lügen! Diese Ketzer behaupten die Pioniere auf dem roten Planeten hätten sich von Dollar abgewandt und zu einem freien Leben gefunden. Ich frage euch: Kann es ein freies Leben ohne Dollar geben?“

„Nein!“ donnerte die Masse.

„Neider! Das sind sie! Nicht dazu fähig, das nötige Vertrauen in unsere von Dollar Gesegneten zu setzen. Sie denken sich diese unfassbaren Lügenmärchen aus, weil die Gesegneten vor hundert Jahren beschlossen haben, den Kontakt zum roten Planeten abzubrechen. Warum, meine Kinder, haben wir die Gesegneten nie über den Grund dafür gefragt?“

„Weil wir vertrauen!“ schallte es in Eintracht zurück.

„So ist es! – Amen!“

*

Jeden Tag der gleiche Ablauf, jeden Tag die gleichen stumpfsinnigen Rituale. Nach dem Gottesdienst blieb Winland gerade noch Zeit für ein Frühstück in einer nahe gelegenen Filiale der Fastfootrestaurantkette Pizzafrizze. Kurz darauf durchschritt er die Eingangshalle des Sevarkonzerns. Er passierte den Grenzpfeiler, dabei legte er seine rechte Hand auf einen Scanner. An dieser Stelle verbarg sich unter der Haut ein zweiter Chip. Die Maschine tastete ihn ab, auf einem Display erschien: Guten Morgen Arbeiter Regnum. Ihre heutigen Werte: Größe 1,79m, Gewicht 83Kg, Blutgruppe 0, Haarfarbe dunkelbraun, Augenfarbe blaugrau, Stimmungspegel im Toleranzbereich, Kontostand + 1.745,23 Dollar bei einem Kreditrahmen von 2.500,00 Dollar. Noch einen produktiven Arbeitstag, Dollar sei gepriesen.

Kaum hatte Winland seinen Schreibtisch erreicht, kam Gregor Amnsen, ein Kollege auf ihn zu. „Hey Winland! Einen produktiven Arbeitstag.“

„Auch dir einen produktiven Arbeitstag, Gregor!“ Winland konnte Gregor nicht leiden. Dieser Mistkerl würde sogar den Unrat von der Straße lecken – würde es auf den Straßen noch so etwas wie Unrat geben – wenn ihm das von Nutzen wäre, um in der Hierarchie aufzusteigen. Erst gestern hatte Gregor Bürgern der Klasse C Aktien eines Kommunikationskonzerns aufgeschwatzt, von denen er wusste, dass sie bald kaum mehr wert sein würden, als das Papier auf dem sie gedruckt sind. In Kürze werden diese Bürger ihr gesamtes Vermögen verlieren, aber Gregor wird bei der Geschäftsleitung an Ansehen gewinnen. Das Schicksal der C-Klasse bedeutete nicht viel. Schließlich handelte es sich nur um einfache Arbeiter ohne nennenswerten Status. Oft machen sich diese Arbeiter auch noch bei ihrer Arbeit schmutzig. Einfach ekelhaft!

Nach dem Verkauf hatte Gregor gesagt: „Hätte Dollar gewollt, dass diese Schafe ihn besitzen, hätte er sie mit dem dafür nötigen Verstand ausgestattet.“

Winlands Chip meldete sich zu Wort: „Gregor Amnsens Anzug, stammt von Knopfauf & Söhne. Knopfauf & Söhne! Der Herrenausstatter für den Mann mit Format. – Rabattmarken für Hemden erhältst du mit jeder Bestellung eines Pizzafrizze-Maximenüs!“ Der Chip hatte registriert, dass Winland wenigstens Gregors sportlich-elegante Erscheinung imponierte.

„Kommst du auf meine Geburtstagsparty?“ fragte Gregor. 

Winland riss sich von der Werbung los. „Was?“

„Heute um Neun! Wird echt was geboten. Ich sorge für gutes Essen – und einen Nachtisch, an dem wir alle unseren Spaß haben werden.

Hab da eine neue Bezugsquelle aufgetan. Die liefern saftiges Jungvieh… – oder wenn’s vegetarisch sein soll: Knackiges Frischgemüse, wenn du verstehst.“ Gregor wieherte kurz über seine eigenen Worte belustigt auf. Dann erklärte er weiter:

„Kein verhungerter Schwarzimport aus Afrika, sondern gute, weiße Ware aus Rumänien, – garantiert ungestopft und ungebraucht.

Der ‚Catering Service‘ übernimmt sogar gegen einen kleinen Aufpreis die Entsorgung. Zudem gibt’s Plastikplanen für Möbel und Teppiche gratis dazu. Echt Spitze! Also? Kommst du? Ist ja nicht so, als würden wir was Unseriöses machen“.

„Äh, nein! Ich fürchte nicht. Ich habe Kopfschmerzen und möchte mich früh hinlegen.“ Das war nicht gelogen. So sehr Winland sich auch bemühte, sich keine Bilder von Gregors Partyspielen mit dem Nachtisch zu machen, es gelang ihm nicht, was sein Körper mit Übelkeit und Kopfschmerzen quittierte der Chip registrierte die plötzliche Verschlechterung von Winlands Befinden sofort:

„Gegen Übelkeit und Kopfschmerzen hilft Katerkiller von Baxter Pepperkuchen. Katerkiller von Baxter Pepperkuchen!  Der Garant für ein langes und schmerzfreies Leben.“

*

Winland ging an die Arbeit, -kaufte und verkaufte Aktienpakete und Fonds. Einige seiner Klienten zählten sogar zu den Gesegneten, die bei jeder Messe von den Predigern erwähnt werden. Das war eine große Ehre für Winland. Die Gesegneten wurden von Dollar selbst ausgewählt. Sie besaßen unglaublich viel davon, einige sogar Milliarden.

Winland seufzte. Selbst vor seinem Chip konnte er seinen Missmut nicht verbergen, aber er lag immer noch im Toleranzbereich.  Er wusste, er muss diesem Alptraum entfliehen. Jenes Leben, das die Gesellschaft als Geschenk betrachtete, würde ihn über kurz oder lang in den Wahnsinn treiben. Doch diese Gedanken musste er streng kontrollieren. Jede aufkeimende Emotion bei einem Gedanken an einen Ausbruch aus dem Alltag wäre sofort von seinem Chip gemeldet worden. Also dachte Winland so vorbehaltlos wie möglich an den Mars.

Er hatte schon viele Geschichten über die Kolonien gehört. Offiziell waren diese Geschichten Lügen, aber was wäre, wenn die Menschen auf dem roten Planeten tatsächlich frei und ohne Geld ihr Dasein bestimmten? – Und ohne den verdammten Chip? Die Sender lagen auf der Erde oder auf den kontrollierten Koloniewelten. Hätte sich der Mars tatsächlich abgespaltet, wären die dortigen Sender sicher nicht mehr in Betrieb. Winland könnte endlich der Herr seiner Gefühle sein. Ob eine Flucht gelänge? Einmal im Monat lief ein unbemannter Frachter aus und steuerte den roten Planeten an. Winland wusste das von einem Vertrauten der in den Docks beim Raumhafen arbeitete. Ein Bürger der Klasse C, den Winland vor Jahren in einer Bar kennen gelernt hatte, denn Winland hatte überhaupt nichts gegen die Bürger der Klasse C. 

„Sie haben uns sehr enttäuscht, Arbeiter Regnum!“

Winland schreckte auf. Eine zierliche Frau mit fast engelsgleichen Zügen hatte sich unbemerkt von hinten genähert. Die Frau war bestimmt fünf Jahre jünger als Winland, trotzdem zuckte Winland vor ihr zusammen.

„Ich verstehe nicht, Ehrwürdige.“

Sandrin Demaner trug ein maßgeschneidertes, rotes Geschäftsdress und roch nach teurem Parfüm. Ihre Stimme war ruhig und warm, ohne vorwurfsvollen Unterton. Nur ihr Chip empfing ihre Wut, die sie erstaunlich gut nach außen hin zu kontrollieren verstand. Doch wusste Winland, dass er in Ungnade gefallen war. Demaners stahlharter Blick verriet es ihm.

“Wie mir Arbeiter Amnsen berichtete, haben Sie gestern ein gewisses Unverständnis gegenüber seiner Verkaufsstrategie geäußert. Das hat mich dazu bewogen Ihre Aktienverkäufe näher in Augenschein zu nehmen. Sie haben nicht eine KCom-Aktie an Bürger der Klasse C verkauft. Wie darf ich das bitte verstehen?”

„Ich hielt es nicht für rentabel, Ehrwürdige“, antwortet Winland kleinlaut. Er hätte es besser wissen müssen, und vor Gregor den Mund halten sollen.

„Nicht rentabel? Für uns oder für die Bürger der Klasse C?“

„Wie …?“

„Bitte zitieren Sie den achten Glaubensgrundsatz!“

Winland zitierte: „Du sollst die Statuten deiner Firma ehren! Vermehre ihr Vermögen, damit Dollar mit wohl gefallen auf sie blicken möge.“

Wir sind ihre Familie, Arbeiter Regnum, – nicht jene Kreaturen in den Randgebieten.

Wir haben sie großgezogen und ernährt, wir bezahlten ihre Ausbildung, wir gaben ihnen Arbeit. Muss ich ihnen wirklich erklären wie das System funktioniert? Die C-Klasse ist dazu da, um jene Arbeiten durchzuführen, die keiner von uns machen möchte. Weder ich noch Sie, Arbeiter Regnum.

Dafür lassen wir sie in dem Glauben, an Dollar teilhaben zu dürfen, indem wir ihnen, in monatlichen Abständen, einen kleinen Anteil unseres Vermögens überlassen. Einen Teil des Verdienstes geben sie für ihr Futter, ihre Behausungen und ähnliche Notwenigkeiten aus. Das ist sehr praktisch. So müssen wir nicht für sie aufkommen.

Was ihnen nach diesen Abzügen übrig bleibt, wollen wir natürlich zurück. Das bewerkstelligen wir nicht nur durch angebliche Luxusprodukte die so billig sind, dass nur die C-Klasse sie erwerben möchte, sondern auch durch Verkäufe wie die der KCom-Aktien. Das ist gut für die C-Klasse. Die Käufe geben ihr Hoffnung auf Gottes Segen, und mit den erworbenen Produkten können sie sich identifizieren. Das hält sie bei Laune, macht sie produktiver. Vergessen Sie nicht! Bürger der C-Klasse wurden nicht von Gott erleuchtet, wie wir. Sie besitzen nur wenig. Daher sind sie keine Menschen im eigentlichen Sinn, sondern reines Investitionsgut.“

„Hoffen wir nur, dass unser Investitionsgut nie über unsere wahren Absichten aufgeklärt wird.“ Winland konnte den Sarkasmus nicht ganz unterdrücken.

„Armer Arbeiter Regnum! So viele Jahre die Schulbank gedrückt und doch nichts über die C-Klasse gelernt. Selbst wenn sie sich ihrer Rolle bewusst wäre, würden sie nichts dagegen unternehmen, weil wir die Hoffnung nähren, sie könnte eines Tages selbst in eine höhere Klasse aufsteigen. Aufstände, Demonstrationen und Streiks gehören dank Dollar dem finsteren Mittelalter an. – Was Sie betrifft, will ich es diesmal bei einer Ermahnung belassen. Arbeiten sie tüchtig und denken Sie in Zukunft mehr an sich!“

© Michael Sagenhorn 2022

Teil II – Mars

Weissagung der Cree

Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann.

Zwei Tage nach dem Gespräch mit Sandrin Demander war sein Fluchtgedanke von einer fixen Idee zu einem wie er meinte durchführbaren Plan gereift. Er besorgte sich über seinen Vertrauten einen Passierschein für den Transporthangar des Raumhafens, der unweit von den Touristenschiffen in einem abgeriegelten Bereich untergebracht war. Mittels seiner neuen Legimitation sollte es kein Problem darstellen die Absperrung zu passieren, und da der Frachter sich automatisch steuerte, hatte er auch keine Crew zu fürchten. Lediglich sein Chip bereitete ihm Kopfzerbrechen. Es gelang ihm zwar seine Gefühle unter Kontrolle zu halten, aber wäre das auch noch der Fall, wenn er den Frachter erreichte? Könnte er sie kurz vor dem Ziel – kurz vor einem neuen Leben in Freiheit bändigen? Die zwei Wochen, die er bis zum Auslaufen des Frachters überbrücken musste, verbrachte er mit täglichem Training. Er schottete seine mentalen Energien vollkommen von seinen Emotionen ab. Jeden Tag dachte er länger an ein Leben auf dem Mars, ohne dabei in eine besondere Stimmung zu verfallen. Der Chip registrierte nichts.

In der Nacht in der der Frachter ablegen sollte, packte er einen Koffer mit konservierter Nahrung und Wäsche, dann machte er sich völlig entspannt auf dem Weg zum Raumhafen. Er passierte die Absperrung – laut Papiere gehörte er zum Reinigungspersonal – schlenderte einen langen sterilen Gang entlang, bis er den Hangar erreichte. Vor ihm lag ein 300 Meter langes Frachtschiff, mit karminroter Ummantelung. Es stand auf vier gewaltigen Stelzen, an beiden Seiten ragten die Triebwerke heraus, doppelt so hoch, wie der Mittelteil des Schiffes. Die Leistungskraft der Fusionstriebwerke war enorm. Zwei kleine Sonnen, die die Strecke von der Erde zum Mars, in nur wenigen Wochen zurücklegen konnten. Winland fragte sich, was der Transporter geladen hatte.

„Zehn Minuten bis zum Start! Bitte verlassen Sie den Gefahrenbereicht“ ertönte es aus Lautsprechern.

Die handvoll Arbeiter, die sich noch hier aufhielten verließen den Hangar. Winland hingegen eilte nach vorn. 

„Vielleicht steckt das Ding voller Handelsgüter, falls die Kolonisten doch nicht so abtrünnig sind, wie man uns glauben machen möchte. Haben Mars und Erde im Geheimen Beziehungen, obwohl der Mars nicht mehr dem wahren Glauben angehört? Oder komme ich vom Regen in die Traufe? Ach! Ich muss es riskieren!“ dachte Winland. Plötzlich geriet eine Emotion außer Kontrolle. Aufregung packte ihn, verzückt träumte er von einem freien Leben. Der Chip reagierte sofort.

„Deine Absichten sind verboten, Winland! Bitte begebe dich umgehend zu einem Sicherheitsschalter im Aufenthaltsbereich. Die örtlichen Behörden sind bereits verständigt.“

„Nein!“ Winland schrie. Er wusste, das System arbeitete schnell. In Kürze würde es hier von Sicherheitsbeamten nur so wimmeln. Hastig lief er nach vorne und verfluchte sich. All sein Training völlig umsonst.

„Noch fünf Minuten bis zum Start!“

„Ich muss zu einer offenen Luke, verdammt!“

„Dein Verhalten ist nicht kooperativ, Winland!“ so der Chip. „Du wirst dir damit nur schaden.“

Die Luken des Frachters schlossen sich rasch. Eine nach der anderen. Die Triebwerke begannen zu summen. Die mächtigen Hangarschotten öffneten sich und gaben den Blick auf einen sternenübersäten Himmel frei.

„Aufwärmphase der Triebwerke eingeleitet! Noch eine Minute bis zum Start!“

„Ich brauche eine Luke!“ schrie Winland, der es knapp verpasst hatte, sich in eine, sich schließende Öffnung zu zwängen.

„Stehen bleiben und Hände über den Kopf, Bürger!“ Vier bewaffnete Sicherheitsbeamte rannten in den Hangar, ihre automatischen Gewehre im Anschlag.

„Du kannst nicht entkommen, Winland“, prophezeite sein Chip.

„Es gibt kein Zurück!“ schrie Winland. Nur hundert Meter vor ihm begann sich die letzte Frachtluke zu schließen. 

„Noch 30 Sekunden bis zum Start!“

„Feuer eröffnen!“ rief einer der Beamten.

Winland lief, als wäre der Teufel hinter ihm her. Dicht neben ihn schlugen die Geschosse ein. Die Luke hatte sich schon zur Hälfte geschlossen.

„Den Startvorgang abbrechen. Blinder Passagier! Den Startvorgang sofort abbrechen!“ hörte Winland einen Beamten durch die Salven plärren.

Er war keine zwei Meter von der Luke entfernt.

„Nicht möglich, Befehlshaber! Der Start kann zu diesem Zeitpunkt nicht mehr abgebrochen werden“

Winland sprang. Er hechtete in das Schiff, knapp an allen Gewehrkugeln vorbei und landete im Dunkeln auf kalten Stahl. Dann ein Wummern. Die letzte Luke hatte sich geschlossen. Winland war in Sicherheit.

„Was hast du getan, Winland?“ klagte sein Chip. „Was hast du getan?“

Winland verlor das Bewusstsein. Er bekam nicht mehr mit, wie sich der Frachter erhob und in die Sternendecke tauchte.

*

Heftige Stöße rüttelten Winland wach. Schwer benommen rappelte er sich auf. 

Unendlich scheinende, entbehrungsreiche Tage lagen hinter ihm. Während der Reise hatte er sich kaum aus seinem Versteck getraut, und obwohl er wusste, dass das Raumschiff unbemannt war, wollte er keine weiten Strecken durch die öligen, mangelhaft beleuchteten Korridore wagen. Ganz allein auf dem großen Schiff, dieser Gedanke bereitete ihn Unbehagen. Auf halber Strecke verstummte endlich der quälende Chip. Außerhalb der Senderreichweite war sein gefährlicher Überwacher nur ein unnutzer Fremdkörper in seinem Kopf. Doch nach der ersten Erleichterung wurde ihm nur unheimlicher zumute. Die ungewohnte Stille in seinem Inneren stand im schrecklichen Kotrast zu den seltsamen Geräuschen des Frachters. Alte Aggregate ratterten ohne Unterlass, die Kühlanlagen in manchen Frachträumen sprangen in kurzen Intervallen an, das röhrende Summen des Lebenserhaltungssystems drang unaufhörlich in seine Ohren. Zum Glück – Winland wusste das von seinem Vertrauten, dem Hafenarbeiter – hatte man das Lebenserhaltungssystem nicht ausgebaut, als die unbemannte Raumfahrt in den Vordergrund rückte. Das Umrüsten wäre teurer gekommen, als es einfach aktiviert zu lassen. 

*

Schließlich erreichte der Frachter endlich den Mars. Die Erschütterungen bei der Landung belegten das Ende der Reise. Die Ladeluken öffneten sich. Winland kroch aus seinem Versteck, näherte sich der Luke, die er schon zum Einstieg benutzt hatte und spähte hinaus in eine gläserne Halle. Allerdings verbarg der dichte Marstaub auf den Fenstern die dahinter liegende Umgebung. Die Halle war menschenleer. Er stieg aus. Auf dem Raumdock nahmen Roboter der verschiedensten Baureihen die Arbeit auf. Einige machten sich daran die Energiezellen des Frachters aufzuladen, andere reparierten beschädigte Stellen an der Außenhülle. Die meisten waren jedoch damit beschäftigt, das Frachtgut zu entladen. Ein großer Laderoboter fuhr seine langen Arme aus, griff von oben in einen der Frachträume und barg verrostete Stahlstreben, alte Maschendrahtzäune, und tonnenschwere Eisenplatten. Ein anderer Roboter kümmerte sich um einen Stauraum daneben. Er verlud in einen selbst steuernden Truck: gebrauchte Verpackungen, alte Hüte oder ausrangierte Haushaltsroboter, zudem Unmengen prall gefüllter Abfalltüten.

„Alles Müll!“ staunte Winland. „Ein Mülltransporter! Sie verfrachten den Abfall der Erde zum Mars?“

Der Truck rauschte voll beladen davon, ein Anderer nahm seine Stelle ein. Neuer Unrat kam zum Vorschein. Winland schrie vor Entsetzen. Seine Augen quollen ungläubig hervor. Aus einer weiteren Frachtkammer schaufelte ein Kranroboter mit drei großen Greifern menschliche Überreste heraus.

Eine Greifarmladung fasste Hunderte verwester und frischer Leiber von Männern, Frauen, Kindern, alle kahlgeschoren, da man die Haare noch verwerten konnte. Sie wurden achtlos auf den Truck geworfen. Der Gestank war unvorstellbar. Seit die Menschheit herausgefunden hat, dass es kein Leben nach dem Tod gibt, galten Verstorbene als biologisch abbaubarer Müll, der so lange in gesonderten Mars-Silos gelagert wurde, bis man ihn als Dünger zum Verkauf anbieten konnte.

Davon aber wusste Winland nichts. Benommen vom Gestank und vom Grauen, wankte er wimmernd zum Ausgang, und trat ins Freie, wo er die terratransformierte Atmosphäre tief einsaugte, um seine Übelkeit zu bekämpfen. 

Aufgrund der sauerstoffreichen Atmosphäre hat der rote Planet den Großteil seiner roten Farbe verloren. Doch richtig blau war der Mars nicht. In weiter Ferne berührten die unzähligen Schlote der Verbrennungsöfen den bläulich schwarzen Himmel, besprenkelt mit rotem Sand, der aufgrund der geringen Schwerkraft herumwirbelte.

Jeder dieser infernalen Öfen hätte eine kleine Stadt beherbergen können. Die giftigen Wolken wurden hoch gespieen und verdunkelten das Land, während die infernalen Feuersäulen der Gaspipelines die Luft erhitzten. Da Winlands Aufgabe nie forschenden Zwecken gedient hatte und er daher auf diesem Gebiet nicht geschult worden war, konnte er auch nicht wissen, dass zu Anfangszeiten der Marskolonisierung das Giftgas der Öfen eine wichtige Rolle im Terraformig-Prozess gespielt hatte.

Winland ging durch die angrenzenden Strassen, die wie aufgerissene Wunden die karge Erde überzogen. Sie wurden flankiert von klobigen Aluminiumbehausungen, deren Höhe nur selten über den ersten Stock hinaus ging. Von den Siedlern fehlte bisher jede Spur. Winland fand sich schon damit ab, das einzige Lebewesen auf dem Mars zu sein, als er aus der Ferne winselnde Laute vernahm, die durchaus menschlichen Ursprungs sein konnten. Aufgeregt rannte er los und fand sich schon bald auf einer ovalen Freifläche wieder. Hier, umkränzt von verfallenen Hütten, erblickte er die Überreste der einstmals stolzen Marszivilisation, und wünschte sich augenblicklich, er wäre tatsächlich allein auf dem Planeten.

Der Anblick überstieg seinen Verstand. Fand er doch keine rationale Erklärung für die Existenz dieser Kreaturen. Inzucht? Giftgas? Unvorstellbar! Dennoch gab es sie. Der Platz war übersät mit sich windenden, ineinander verschlungenen Lebensformen, nackt und verwahrlost, deren Gebaren hatte nichts Menschliches mehr. Dreckige Körper krochen über die staubige Erde, manche leckten den Boden, andere zuckten in spasmischen Anfällen. Wieder andere kauten am Fleisch des Nächsten bis das Blut hervor quoll. Doch die Gepeinigten störte das nicht, sie waren anscheinend alle dem Wahnsinn verfallen. Viele stießen zudem einen Singsang aus, der Winland stark an die Choräle der heimatlichen Messen erinnerte. 

Das Abstruseste aber war der Anblick ihrer Haut: Gespickt mit alten Dollarnoten, ein paar mit Nadeln und Nägeln angeheftet, die meisten aber schon verbacken mit dem Wirtsleib, schienen die Scheine mitten ins Fleisch zu wachsen. Sie hatten an den Kanten so etwas wie Wurzeln gebildet und gruben sich damit unter die Haut. Die fahle Haut wiederum überwucherte manche Noten, wie Rankengewächse, die ein aufgegebenes Gemäuer zurückforderten. Eine Unzahl an Banknoten hatte noch keinen Körper gefunden und lag über den gesamten Platz verstreut. Die Nachfahren der ersten Siedler suhlten sich darin und warfen sie schreiend in die Höhe. Sie zerknautschten sie mit liebevoller Inbrunst und – sie aßen sie.

Gierig stopften sich die Geldmenschen gegenseitig die Banknoten in die Mäuler. Sie kauten sie ausdauernd und freudig, und Manchem tropfte ein grüngelber Banknoten-Speichel-Brei von den Lippen. Es gab auch welche, die wollten nicht teilen. Sie rauften sich wie Tiere um jede Note, als wäre Gier eine heilige Tugend.

Zuerst brachte Winland keinen Ton heraus. Das ist ein Traum. Ja, ganz sicher ist das ein unseliger Traum. Speichel lief auch aus seinem Mundwinkel und tropfte zu Boden. 

„Leben die Geldscheine?“ fragte sich Winland. Wieder wurde ein Schein in einen Schlund geschoben, wieder knisterte das Papier zwischen fauligen Zähnen.

Da lächelte Winland, umnachtet von der dargebotenen Szene. „Meine Güte! Sie fressen Geld!“ rief er. Dann stutze er, als hätten seine eigenen Worte für eine heilige Eingebung gesorgt. „Aber nein! – Sie fressen nicht Geld. Sie fressen Gott! So ist es!“ Er begann irre zu lachen. „Sie fressen Gott auf!“

Ein junges Mädchen krauchte spinnengleich zu ihm. Ihr schwarzes, verfilztes Haar wischte über den Boden. Manche Stellen an Armen und Beinen sahen aus, als wäre dort ebenfalls Fleisch herausgebissen worden. 

„Kannst du es sehen?“ Ihre Stimme war hell und voller Leben, der Klang ihrer Frage glich fast einem Lied. Doch deren Sinn entzog sich Winland, denn das Mädchen war blind.

Anstelle der Augen saßen, tief vergraben, zwei alte Silberdollar in den Höhlen, verwachsen mit Schädel und Lidern. Der ehrwürdige Adler, Wappen einer vergessenen, längst zu Asche verfallenen Großmacht lugte noch unter verknorpelten Hautsträngen und weich gewordenen Knochen hervor, das kondensierte Silber glich beinahe der Farbe ihres schmutzigen Gesichts. Winland verschwendete keinen Gedanken daran, wie das Mädchen auf ihn aufmerksam werden konnte. Es war auch egal. Sie ist erleuchtet, mehr brauchte er nicht zu wissen.

„Sein Leib!“ hauchte die Priesterin und hielt eine Dollarnote hoch.

Winland verstand! Endlich verstand er es! Er nahm den Dollar. Wieso hatte er es nicht schon früher erkannt? Der verfluchte Prediger und seine Dogmen! Er war schuld daran, dass Winland den Glauben verloren hatte. Aber diese Pilgerreise wies ihm den wahren Weg zu Gott. Wie gütig Gott doch ist! Wie selbstlos und barmherzig ist Dollar! Er opfert sich selbst, um seine Kinder zu ernähren.

Die Priesterin zog ihn zu sich hinunter, schälte ihm das Hemd vom Leib, dann begann sie damit die ersten Dollarnoten mittels rostiger Nägel an ihm zu befestigen. Winland fühlte schreckliche Schmerzen, doch er jauchzte vor Glück. Durfte er doch am Leid seines Gottes teilhaben, – auch am Leid darüber, dass ihn seine Kinder auf der Erde vergessen hatten. Winland lächelte wieder, sein Blick fiel auf den Geldschein in seiner Hand, dann stopfte er ihn in sich hinein.

Überarbeitet Sagenhorn Poing, September 2022 / Erstfassung Sagenhorn München, 12.11.2007

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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