Genre: Fantasy – Geeignet ab 12 Jahren
„Nicht deine Abstammung bestimmt deine Gesinnung, sondern dein innerster Kern, denn die von ihm ersonnenen Taten spiegeln wider, ob du dich dem Guten zuwendest, oder ob du dem Bösen erliegst.“
Zitat Gimata Kanamo, Hochmeister der Klingen
Die angstvollen Blicke des einsamen Wanderers irrten über den nächtlich verschleierten Wald. Es schien als würde er nach Wölfen oder viel gefährlicheren Kreaturen Ausschau halten, die zwischen den hölzernen Fratzen der zerfurchten Bäume umherschlichen, denn auf der Welt Avalgaron durchstreifen unheimliche Geschöpfe die finsteren Wälder des Kaiser-Reiches…
Was war das! Der alte Wanderer lauschte aufmerksam. Da raschelte ein Busch in seiner Nähe. Sofort stoppte er und beobachtete angespannt die Gegend, – hielt Ausschau nach hungrigen Augen, die böse im Geäst funkelten.
„Ist da jemand?“ krächzte er mit dünner Stimme in die Dunkelheit. – Nichts!
Der Alte schüttelte den Kopf, als wollte er der eingekehrten Stille nicht trauen, dann pochte er mit dem Wanderstab einmal energisch auf den Boden und setzte seinen Weg fort.
„Was…?” Da war es wieder! Nicht weit von ihm entfernt knackte ein Ast. Dem Alten blieb keine Zeit, sich aufs Neue umzusehen, denn einen Atemzug später erfolgte der Angriff. Eine filigrane Gestalt schnellte aus dem Buschwerk, seitlich des Weges, sprang ihn mit katzenhafter Geschmeidigkeit an und warf ihn zu Boden. Des Wanderers Blicke trafen auf gierig glimmende Augen und auf zwei lange Hauer, die aus dem aufgerissenen Rachen herausblitzten und sich seiner pochenden Halsschlagader näherten.
„Warte! Lass mich am Leben, Mädchen“, flehte der Wanderer. Er erkannte ein zierliches Wesen, das trotz – , oder gerade wegen ihrer kalten, fahl schimmernden Haut, eine seltsame Schönheit ausstrahlte. Ihr schwarzes Haar tanzte durch die Luft, obwohl nicht der kleinste Windhauch zu spüren war.
„Bitte nicht!“ Ihr frostiger Atem befeuchtete schon seine Haut. – Dann aber, ganz unvermittelt, hielt sie inne.
Der Alte glaubte eine Spur Mitgefühl in den zuvor so seelenlosen Augen zu erkennen. Die junge Frau sah traurig und verwirrt auf ihn herab, erhob sich zitternd vor kaum beherrschbarer Gier und befahl: „Verschwinde!“
„Wie?“ stammelte der Wanderer. Doch der alte Mann brauchte keine nähere Erklärung. Sogleich rappelte er sich aber auf und suchte das Weite.
Das unheimliche Mädchen beobachtete noch, wie er hinter einer Biegung verschwand, dann erschrak sie selbst. Denn ein spöttisches Lachen hallte durch den dunklen Wald.
„Samanda!“ höhnte jemand. „Ich wusste es! Du bringst es nicht über dich, Menschen zu töten. Du hast es nach siebzehn Jahren nicht über dich gebracht, du wirst es auch in deiner letzten Nacht nicht tun.“ Ein hoch gewachsener schlanker Mann trat zwischen den Bäumen heraus und schwebte dem Mädchen überlegen lächelnd entgegen.
„Die Nacht ist noch nicht vorüber, Bruder. Außerdem! Dieser Alte war nicht der Richtige für mich”, verteidigte sie sich trotzig.
„Nenn’ es wie du willst! Aber deine Seele gehört bereits mir. Dein dummes Herz wird dich auch weiterhin daran hindern, Menschenblut zu trinken. Nun lauf! Nimm dir einen kleinen Hasen oder eine Maus als letztes Mahl, bevor es mit deinem erbärmlichen Dasein zu Ende geht.”
„Freu’ dich nicht zu früh, Silmar! Die Mitglieder des Rates wollen mich selbst vernichten. Wie würdest du dastehen, wenn du ihnen dieses Vergnügen raubst? – Nein! Du bist nicht befugt, meiner Existenz ein Ende zu setzen.“
„Wie dem auch sei, Schwesterchen! Der Rat bietet dir eine letzte Gelegenheit, dich zu bewähren. Im Dörfchen Kalbadur wohnt ein Kleriker, der schon viele der Unseren ermordet hat. Beseitige diesen Kleriker noch heute Nacht, und dir wird Gnade gewährt. Wenn du aber wieder versagst, hast du dein untotes Leben endgültig verwirkt!” Damit verformte sich sein Leib zu Nebel, der sich auflöste und verschwand.
Fürs erste blieb Samanda nichts anderes übrig, als den Weg zu gehen, den der Rat ihr befahl einzuschlagen, – den Weg nach Kalbadur. Doch angestrengt, dachte sie über einen Ausweg aus ihrer Lage nach.
„Wie erwecke ich den Eindruck, als gehorche ich meinem Bruder, ohne das Leben des Ehrwürdigen zu gefährden?“ fragte sich Samanda. Doch so sehr sie auch grübelte, eine entsprechende List wollte ihr einfach nicht in den Sinn kommen.
Vor Kalbadur wurde ihr das Herz sehr schwer. „Ich muss mit ihm reden, und darauf vertrauen, dass er mir zuhört”, flüsterte sie zu sich, als sie das schlummernde Dorf betrat. „Er ist sicher ein verständiger Mann und weiß vielleicht einen Ausweg.”
Bald stand Samanda Ra’ia vor der unverkennbaren Hütte des Klerikers. Zeichen und Insignien der Menschengötter waren in die Holzbalken der Hütte eingebrannt. Zu ihrer Überraschung erspähte sie sogar die das Weinende Auge, des bei allen verhassten Traumgottes Lauros.
Still und verschlafen lag die Hütte da, und als sie durch das offene Fenster in die dunkle Stube kletterte, vernahm sie nur das gleichmäßige Ticken der Wanduhr.
‚Sicher schläft er schon’, dachte sie und pirschte sich voran.
Tatsächlich! Unter der Bettdecke zeichnete sich ein Körper ab, doch Samanda hatte plötzlich ein ungutes Gefühl.
„Bitte wacht auf, Ehrwürdiger! Ich muss mit Euch reden.“
Der Kleriker regte sich nicht! Da packte sie die Decke, und mit einem Ruck, zog sie den Stoff von dem schlafenden Mann. Schlafend? Samanda erschrak fürchterlich und wich zurück. Der Kleriker schlief nicht. Er war tot!
„Nein!“ Das fassungslose Mädchen schüttelte den Kopf. „Diese Wunden an seinem Hals!“ Nur einer der ihren war fähig, solche Einstiche zu hinterlassen.
Plötzlich vernahm Samanda von draußen aufgebrachte Rufe. Wenige Sekunden später hämmerten aufgeregte Bürger an die Tür und riefen den Toten beim Namen. Der war natürlich nicht mehr in der Lage zu antworten. Daher schwoll das Hämmern zu einem zornigen Donnern an. Samanda wusste, dass die alte Türe nicht lange standhalten würde. Schnell wandte sie sich flüchtend zum Fenster.
Zu spät! Die Tür fiel aus den Angeln und ein wütender Haufen, angeführt vom dicken Bürgermeister Erich Kräutel, polterte in die Stube, direkt auf Samanda zu.
„Packt die blutsaufende Brut, Leute!“ rief der Bürgermeister. „Lasst sie nicht entkommen!“ Sofort wurde Samanda überwältigt und ergriffen.
„Nein! Ich habe das nicht getan!” versicherte sie noch. Die Bürger aber umschnürten ihren Leib mit schweren Ketten. „Bitte glaubt mir.” Langsam schlussfolgerte sie, wie die Falle, die man ihr gestellt hat, zugeschnappt ist. „Silmar, mein Bruder hat den Ehrwürdigen getötet! Nicht ich.”
Doch ungeachtet ihrer Worte zerrte sie die aufgebrachte Menge vor die Hütte.
Silmar, dieser hinterlistige Mistkerl hatte gewonnen! Er durfte sie nicht eigenhändig töten, sonst hätte er den Rat gegen sich aufgebracht. Daher hatte er den Kleriker ermordet und anschließend das ganze Dorf geweckt. Leider kannte er seine kleine Schwester nur allzu gut. Sie wollte keine Unschuldigen töten, und war noch viel zu unerfahren um sich gegen den Mob zu wehren, ohne ein Massaker anzurichten, weil sie ihre Kräfte und ihre Wut nicht entsprechend regulieren konnte. Es fiel ihr ohnehin schon schwer genug, nicht dem Blutdurst zu erliegen, wenn sie Hunger hatte.
„Was sollen wir mit der Höllenbrut anstellen, liebe Leute?“, fragte Kräutel seine wütenden Untertanen.
„Tötet sie!“ riefen da manche. „Auf den Scheiterhaufen mit ihr!“ krähten andere. „Ja! Brennen soll sie, diese tollwütige Hure!“ Die braven Bürger waren sich schnell einig.
„Ihr begeht einen Fehler! Ihr werdet doch von Silmar nur benutzt.” Samandas Verzweiflung wuchs. Unter Tränen beobachtete sie, wie die Bürger schon eifrig trockenes Holz zu einem hohen Haufen stapelten. Ach! Könnte sie sich nur in Nebel verwandeln, wie ihr großer Bruder.
Zwei kräftige Knechte wollten die zappelnde Samanda gerade auf dem Gipfel platzieren, da erhob sich eine Stimme, dunkel und hart: „Was geht hier vor?“
Plötzlich herrschte erschrockene Stille. Die Leute erblickten einen großen, breit gebauten Mann.
„Wer ist dieser Riese?” wunderten sie sich. Nur Kräutel erkannte den alten Kampfmagier von der Kaste der Klingenmeister sofort. „Meister Gimata! Welche Ehre zu so …”
„Ich will keine Huldigung, sondern eine Antwort!“
Samanda blickte auf Gimatas gezogene Klinge. An ihr klebte schwarzes Blut, und sie entdeckte ein paar silbrig schimmernde Haarsträhnen, die nur von Silmar stammen konnten.
Auch Kräutel erkannte das verfluchte Blut, und so erzählte er mit stolzgeschwellter Brust, welchen Fang sie gemacht hatten.
Gimata, lobte den Mut der Dorfgemeinschaft, auch wenn er wusste, dass dieser nur ihren Zorn entsprang, jedoch befahl er, die Gefangene umgehend frei zu lassen.
Zu Samandas Erleichterung wagte es niemand, dem Klingenmeister zu widersprechen. Die Bürger gehorchten mürrisch und sahen zu, wie sie mit dem mystischen Krieger im Wald verschwand.
„Ich verstehe das nicht! Warum habt ihr meinen Bruder getötet, mich aber gerettet?“, fragte das Mädchen, als sie mit Gimata alleine war.
Der lächelte nun listig. „Ich habe dein Herz geprüft!” Die Gestalt des Klingenmeisters verschwamm und verwandelte sich vor einer sehr erstaunten Samanda in den alten Wanderer, dessen Leben sie vorhin verschont hatte. „Es lodert jetzt schon so hell, dass es keines Feuers bedarf, um dessen Wärme zu entfachen.”
Später, so wurde berichtet, machte Meister Gimata Samanda zu seiner Schülerin. Gemeinsam erlebten sie allerlei unglaubliche Abenteuer. Zu ihrer hasserfüllten Sippschaft aber, kehrte Samanda Ra’ia nie wieder zurück.
Bildquelle: © Michael Sagenhorn