Michael Sagenhorn/ Februar 21, 2023/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genre: Science-Fiction, Horror – Geeignet ab 16 Jahren

© Michael Sagenhorn 2023

Auf dem Weg zum medizinischen Labor fühlte Daniel Parker wieder den unheimlichen Schatten, der über der Forschungsstation schwebte, hervorgekrochen aus den geheimnisvollen Tiefen des dunklen Jupitermondes Kallisto und nun bereit, die besorgten Herzen derer zu verschlingen, die nicht standhaft genug waren, der Angst und Agonie zu widerstehen.

Die mysteriösen Todesfälle der jüngsten Zeit hatten Spuren bei der einstmals achtköpfigen Crew hinterlassen. Alle gingen sich aus dem Weg, sprachen nur das Nötigste. Die fünf mächtigen Schaufelkräne, gewaltige Ausgrabungs- und Analyseroboter, standen still, alle Arbeit war unterbrochen, zumindest bis Klarheit über die Todesursache eines Technikers und zweier Geologen herrschte.
Die Eingangsschleusen zum Labor glitten fast geräuschlos zur Seite, Daniel trat ein und erlaubte sich einen verstohlenen Blick auf die Körper, die sich unter glänzenden Plastikplanen hervorwölbten, bevor er sich Doktor Mira Doreen zuwandte. Doktor Doreen saß hinter ihrem Schreibtisch, mit bleichem Gesicht, so weiß wie ihr Kittel. Sie studierte ihre Aufzeichnungen an der Konsole. Ihre Kaffeetasse ruhte immer noch unangetastet auf einem Notizgerät, der bitterschwarze Inhalt, so kalt wie die Asche ihrer achtlos heruntergebrannten Zigarette.
„Nun, Mira? Haben Sie etwas für mich?“ Daniel versuchte seine Aufregung in Zaum zu halten. Als Leiter der kleinen Forschungseinheit musste er auch jetzt Ruhe bewahren. Sein schwerer persönlicher Verlust änderte daran nichts. „Wissen Sie jetzt genauer woran sie gestorben sind?“.
Mira blickte mit einem Ausdruck der Verwirrung auf, fixierte aber sogleich wieder die Konsole.

„Doktor Doreen!“ Daniel verlieh seiner Stimme mehr Nachdruck.
„Ich … ich weiß nicht …“, haspelte Mira dünn. Doch dann sammelte sie sich, holte tief Luft und erklärte fest: „Daniel! Ich sage es Ihnen direkt: Das, was Sie von draußen mitgebracht haben …“ Mira blickte unsicher zu den Toten. „… was Sie mitgebracht haben, sind keine Überreste einstmals lebender Menschen“.
Miras Lippen bebten. Sie schien wieder die Stimme zu verlieren, und mit ihr die Fassung. Ihre unruhigen Blicke wechselten zwischen dem verdutzt dreinblickenden Forschungsleiter und den Toten. „Was dort liegt, hat niemals gelebt! Daher…daher gibt es auch keine Todesursache.“

Jetzt rang auch Daniel mit seiner Fassung. Am liebsten hätte der Forschungsleiter Mira geschüttelt und lauthals daran erinnert, dass sich nicht nur zwei langjährige Mitarbeiter unter den Toten befanden, sondern auch seine eigene Frau. „Sind Sie sicher, dass Sie sich ihrer Aufgabe gewachsen fühlen?“ fragte er stattdessen trocken.
„Ich verstehe, dass Sie meine Erklärung nicht zufrieden stellt, aber ich kann Ihnen keine Bessere bieten.“
„Mira! Doktor Doreen! Ich will von Ihnen einen klaren Bericht!“
Mira nippte am abgestandenen Kaffee und erschlich sich so eine kurze Bedenkzeit. Dann murmelte sie kaum hörbar: „Was wissen Sie über Chromosomen, Daniel?“
„Nicht viel! Ich bin Geologe, kein Genetiker.“
„Aber Sie wissen bestimmt, dass Chromosomen unser Erbgut enthalten.“
„Worauf wollen Sie hinaus?“
„Nun, Daniel! Da ich keine befriedigende Todesursache finden konnte, habe ich die Körper einer gründlichen Analyse unterzogen.

Zuerst mal: Die Keimzellen des Menschen, Eizelle und Spermium, enthalten 23 Chromosomen, aufgeteilt in 22 Autosomen und ein Geschlechtschromosom – X oder Y. Bei der Verschmelzung von Eizelle und Spermium ergänzen sich die Keimzellen und es entsteht eine Körperzelle mit 46 Chromosomen, 23 von Seite der Mutter und 23 von Seites des Vaters. So wird das Erbgut an die nächste Generation weitergegeben.
Doch meinen Analysen zufolge, besitzen die Toten überhaupt keine Chromosomen, keine DNA, und das, was ich einmal als Zellkern bezeichnet hätte, wurde ersetzt durch ein exotisches Substrat, das ich mit den Mitteln, die mir hier zur Verfügung stehen, nicht einordnen kann. Sie sehen zwar noch aus wie Menschen, sie fühlen sich sogar so an, aber im Kern basieren sie auf einer Zusammensetzung, die mir völlig unbekannt ist“. Mira schluckte und schüttelte leicht den Kopf „Daniel! Diese Körper sind nicht mehr organisch!“
Daniel japste. „Sie müssen sich irren!“
„Tut mir leid. Die Untersuchungen sind eindeutig.“
Daniel setzte sich Mira gegenüber und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Was ist in der Lage so etwas zu tun?“
Für einige Augenblicke herrschte Stille. Sie konnten sogar das ferne Summen der Kühlanlagen hören. Dann flüsterte die Ärztin: „Fühlen Sie es denn nicht?“
Daniel sah auf.
„Fühlen Sie es nicht? Etwas ist da! … Bei uns… schon seit Tagen! Seit wir dieses Artefakt entdeckt haben. Es macht mir Angst.“ Mira erweckte den Eindruck, als müsste sie aufkommende Tränen unterdrücken. „Sie lauert!“ hauchte sie. „Diese Präsenz!“
„Mira, bitte! Bleiben Sie bei Verstand!“
„Sie müssen es doch auch spüren. Jeder spürt es.“
„Einbildung! Nichts weiter! – Und jetzt hören Sie gut zu, Doktor! Ich weigere mich, irgendwelchen paranoiden Fantastereien die Schuld am Tod meiner Frau zu geben.“
„Und ich sage Ihnen, etwas umgibt uns! Es beobachtet mich. Egal, ob ich wache oder schlafe, es ist da! Unbestimmbare Blicke folgen mir. Es ist als wäre ich von einem körperlosen Wesen verschluckt worden, dass mich langsam verdaut“.
„Mira…!“
„Wir haben es freigelegt – mit dem Auge. Verstehen Sie denn nicht?“
„Ich verstehe nur eins! Wir haben drei ungeklärte Todesfälle und eine Mannschaft, die dabei ist durchzudrehen.“
Daniel Parker verstand Mira Doreen besser, als er es zugeben wollte. Seit der Auffindung des Artefakts, das hier alle nur das ‚Auge‘ nannten, war es so, als wären sie nicht mehr allein auf Jupiters vierten Mond. Mehr noch. Daniel hatte das Gefühl, als wäre der Mond selbst aus einem tiefen Schlummer erwacht. Alles schien tatsächlich verschlungen worden zu sein, von einer namenlosen Allgegenwart, die dem Zustand des Bösen ein Bewusstsein einhaucht. Von dem her war das Gefühl, das er hatte, dem Gefühl der Doktorin sehr ähnlich. Ihr jedoch vorbehaltlos beizupflichten, würde ihren nervlichen Zustand auch nicht verbessern. Stattdessen sagte er:
„Ich kann unter den gegebenen Umständen die Forschungen nicht fortsetzten. Wir evakuieren die Station. Der Tiefenraumkreuzer Mantice ist auf den Weg nach Io, mit Versorgungsgütern für die Bergwerke. Der kann uns auf dem Rückweg zur Erde aufnehmen.
Verfrachten Sie die Körper in die Stasiskammer der Raumfähre. Indessen informiere ich die anderen. Vor allem Adam. Er ist noch draußen unterwegs. Sobald er zurück ist, verlassen wir diesen verfluchten Mond.“

*

Geologe Adam Eden befand sich bereits auf dem Rückweg, als ihn Daniels Nachricht von der Evakuierung erreichte. Nach den tödlichen Zwischenfällen wagte nur er sich noch in die Nähe des Auges, auch wenn seine aktuellen Aufgaben sich darauf beschränkten, das Artefakt zu fotografieren und oberflächlich auf Veränderungen zu scannen. Nach stundenlanger Arbeit, hatte sich schließlich sein Magen gemeldet, worauf er beschlossen hatte für heute abzubrechen. Der junge Forscher wünschte, ihm stünde das Mondfahrzeug zur Verfügung, doch das Gefährt, ließ sich nicht starten.
„Verdammt Delaila!“ schimpfte Adam und verfluchte die abwesende Pilotin. Delaila Bakary hatte es bei Schichtbeginn vorgezogen, eine angeblich notwendige Wartung an der Raumfähre zu priorisieren (vielleicht hatte sie so eine Vorahnung bezüglich der Evakuierung). Und Nick Moller, der Techniker war tot. Zu Fuß, in dem schweren Raumanzug, benötigte er nahezu zwei Stunden, bis zur Station.
Der Hunger war nicht das Einzige, das an Adam nagte. Da schlummerte noch etwas Anderes, tief in ihm verborgen…
Plötzlich fuhr er mit einem Satz herum.


„Ist da jemand?“ Hinter ihm lag nur die öde Steinlandschaft des unwirklichen Mondes. Keine Bewegungen, kein Anzeichen weiteren Lebens, und doch glaubte er, etwas beobachtete ihn mit stoischer Ruhe und unglaublicher Geduld. Adam verharrte regungslos. Das Artefakt war nicht mehr zu sehen. Ein Hügel angehäufter Erde, der durch die Ausgrabung entstanden ist, verdeckte das Objekt. Links neben dem Hügel ruhte ein abgeschalteter Schaufelkran. Der Roboter sah von der Entfernung aus wie die kleine Version eines Schaufelradbaggers aus dem 20./21. Jahrhundert, nur mit senkrecht aufgestellten Schaufelarm. Der 48 Meter hohe Schaufelarm konnte mittels Gewichte in beliebige Winkel geneigt werden. Er bot die Aufhängung für ein mächtiges senkbares Schaufelrad, das gegenwärtig auf seiner Spitze thronte. Der Kranroboter hatte an jenem schicksalhaften Tag kaum gegraben, als er auf das Artefakt gestoßen war.
Nachdem Adam sich vergewissert hatte, dass sich der Schaufelkran nicht plötzlich brüllend in Bewegung setzt, marschierte er weiter Richtung Forschungsstation.


„Hör auf, Gespenster zu sehen. Hier gibt es nichts! Nur dich… nur dich!“ Doch das Gefühl, eine unerklärbare Präsenz sei allgegenwärtig, ließ ihn nicht los. Instinktiv erhöhte er sein Tempo. „Immer ruhig, mein Freund! Bald hast du es geschafft.“ Noch einmal blickte er zurück auf die gähnende Kraterlandschaft Kallistos. Ohne Gebirgszüge oder Schluchten, trostlos und leer.

*

Delaila Bakary sah durch die Scheibe des Cockpits auf die trostlose, leere Kraterlandschaft, während sich die seitlichen Hangarschotten wieder schlossen. Sie würde sie erst dann wieder öffnen, wenn alle Mitglieder an Bord der Raumfähre wären, um diesen Mond zu verlassen. Delaila hatte zwar die Wartungsarbeiten beendet, aber vor jedem Start wurde die Fähre einem routinemäßigen Test unterzogen. Gerade lief dieser Test, im Hintergrund automatisch ab. Delaila überwachte ihn über einen Monitor vor ihr.

Derzeit war sie allein in der Fähre – allein mit den Toten, die Mira Doreen vor kurzem fachgerecht verstaut hatte. Delaila fröstelte. Zwar lagen die Toten fest verschlossen in den Stasiskammern, trotzdem hatte sie das Gefühl, sie würden hinter ihr stehen, sobald sie sich umdrehte. Dann würden Nick, Sonja und Michael sie mit Porzellanaugen anstarren, während sie selbst von Grauen gepackt ihr Leben aushauchte.

Aber die Toten waren nicht der einzige Grund, warum Delaila ihren Blick lieber auf den Monitor vor ihr richtete, der gerade die Check-Daten der Raumfähre runterspulte. Viel schlimmer war das Gefühl ständig von etwas Unmenschlichem studiert zu werden. Als wäre ein unbekanntes Wesen immer präsent. ‚Sind wir zu Erdmännchen geworden?‘ überlegte die Pilotin. ‚Ständig auf der Hut, vor Jägern?‘ Genauso fühlte sie sich. Drei kleine Erdmännchen wurden bereits erbeutet. Und mit jedem toten Erdmännchen wurde die Präsenz klarer, – das Gefühl in den hintersten Hirnwindungen bedrohlicher, als wollte etwas tief in Delailas Seele schreien.
Sonja starb als erste. Delaila mochte Sonja, wegen ihrer lebensfrohen Art, die durchaus manchmal nervtötend, aber meist ansteckend gewesen ist, und daher gerade auf diesem Mond so wichtig war. Neigt man wegen der trostlosen Gegend zu Depressionen? Oder liegt es an dem Artefakt? Das hatte sich Delaila immer wieder gefragt.
Die Pilotin hatte Sonja routinemäßig mit der Kamera bei der Ausgrabungsstätte beobachtet. Eine Stunde vor ihrem Tod, war Sonja noch die Soja, die Delaila kannte. Eine halbe Stunde vor ihrem Tod, war Sonja plötzlich ernst und still geworden. Sie starrte unentwegt in das Auge. Dann hat Delaila Sonja nie wieder lebend gesehen. Daniel und Michael brachten sie leblos zurück. Der nächste war Michael, und am Ende starb Nick. Es ging so schnell, – so unheimlich schnell! Delaila hoffte inständig, dass …

Plötzlich zuckte sie zusammen. Ihr Gedanke brach ab. Ein Klackern hinter hier! Jetzt fuhr die Pilotin doch herum. Sie wappnete sich für den Anblick der Toten. Doch der Passagierraum, der durch die offene Cockpittür zu sehen war, offenbarte keine Menschenseele.
„Hallo?“ Delaila wollte sich vergewissern. „Mira? Daniel? Ist jemand hier?“
Hinter ihrem Rücken meldete der Bildschirm: Tests abgeschlossen. Alle Systeme bereit.

*

Daniel starrte auf seinen Bildschirm, als Yamagata Yamori den Kontrollraum betrat.
„Vorbereitungen abgeschlossen, Daniel. Der Computer der Fähre meldet, dass sie startklar ist. Jetzt müssen wir nur noch Adam und Doktor Doreen einsammeln.“
„Ist Mira noch nicht an Bord?“ fragte Daniel, ohne sich von dem Bildschirm abzuwenden.
„Sie sichert noch die medizinische Datenbank auf ihr TNA.“

Auch Yamagata blickte auf den Monitor, – darauf zu sehen, ein schwarzer, ovaler Ring in einer freigelegten Senke. Innerhalb des Rings schien nichts zu existieren. Ein konsistenzloser, dunkler Abgrund gähnte den Betrachtern entgegen. Ein unergründlicher Tümpel, von dem keiner zu sagen vermochte, aus welchem Stoff er bestand. Flüssig? Fest? Gase? Nicht einmal Adam hatte sich getraut eine Probe davon zu entnehmen.
Die schmalen Seiten des Rings spitzten sich leicht zu, so dass das Konstrukt tatsächlich wie ein halb geschlossenes Auge aussah. Das Auge fixierte den Geologen und den IT-Experten fast zornig. Selbst in Aufzeichnungen hatte das schwarze Gebilde mit den türkis leuchtenden, arabisch anmutenden Schriftzeichen, die den Rand des Auges säumten, etwas Bedrohliches an sich.
„Das war der Tag, an dem es passierte“, erkannte Yamagata in einem Tonfall des tiefen Bedauerns. Er war fast 25 Jahre älter als Daniel, – mehr väterlicher Freund, als Kollege für ihn.
Daniel nickte bekümmert. Die Aufzeichnung zeigte den Tag, an dem sie es fanden, – dem Tag, an dem er seine Frau verloren hatte.
„Der erste Beweis einer extraterrestrischen Existenz. Eigentlich nicht schlecht für jemanden, der nur Steine katalogisieren sollte. Vielleicht gehen wir in die Geschichtsbücher ein. Dann ist dein Name und Sonjas Name für die Nachwelt verewigt“, fuhr Yamagata fort, als wollte er Daniel einen schwachen Trost bescheren.
„Ich bin mir nicht sicher, ob es außerirdisch ist“, erwiderte Daniel nachdenklich.
Yamori schnaufte verblüfft. „Wer hat das Ding dann erbaut? Also, ich hab‘s nicht erbaut“.
„Vielleicht wurde es gar nicht erbaut“, sinnierte Daniel, immer noch dem Artefakt zugewandt. „Vielleicht war es immer schon da.“
„Was soll das, Daniel? Das Ding ist eindeutig nicht natürlichen Ursprungs. Irgendjemand muss es geschaffen haben“. Die Andeutung eines freudlosen Lächelns glitt über Yamagatas Lippen.
„Lies!“ Daniel reichte Yamagata sein TNA, ein kleines, elektronisches Aufzeichnungsgerät, das jeder bei sich trug. „Der Computer ist mit den letzten Berechnungen fertig. Sieh dir das Zeitdiagramm des Auges an. Die Alterseinschätzung ist höchst bemerkenswert.“
Yamagata studierte die Berechnung, schielte ungläubig zu Daniel, studierte sie kopfschüttelnd abermals.
„Da ist etwas nicht richtig. Das Auge hat die Skala gesprengt!“
„Und ist damit mindestens dreimal so alt wie unser Sonnensystem: 13,5 Milliarden Jahre! – Also! Woher kommt es?“
„Das heißt gar nichts! Hätten wir Zeit, würde ich den Computer einer Analyse unterziehen. Aber selbst, wenn die Berechnungen stimmen, kann es immer noch eine hoch entwickelte Spezies erschaffen und hier abgelegt haben“.
„Dann kommt diese Spezies sicher nicht aus unserem Universum. Selbst wenn das Universum damals schon existiert haben sollte, befand es sich noch in der Kinderwiege. Ich bezweifle sehr, dass zu dieser Zeit ein so hochentwickeltes Leben möglich gewesen ist.
Außerdem versuche ich immer noch zu ergründen, welchem Zweck dieses Ding dient.“
„Vielleicht ist es ein Kunstwerk?“ fragte Yamagata, mit der Ironie der Ahnungslosen.
„Ein Kunstwerk?“ Daniel deutete zum Monitor. „Und was ist damit? Das hast du doch auch schon gesehen“. Seine Frau Sonja schritt gerade ins Bild. Eingepackt in ihrem weißen Raumanzug, mit einem Handstrahler ausgerüstet. Sie leuchtete mitten in das Konstrukt, doch das Licht wurde einfach von der Schwärze umarmt und verschlungen.
„Ein Kunstwerk, das Licht verschluckt? Wie nennen wir dieses Kunstwerk? Das Schwarze Loch?“ Daniel schob seinen Sarkasmus beiseite. „Nein! Das Ding dient einem anderen Zweck.“
Yamagata massierte seine Stirn. „Welchen Zweck hat es dann?“

*

„Es kommt!“ krächzte Adam in das Funkgerät. „Hört ihr mich?“ Sinnlos. Der Kontakt zur Station war unterbrochen. „Das warst du, nicht wahr? Du willst mich an Einsamkeit zugrunde gehen lassen.“ Adam konnte ein verzweifeltes Lächeln nicht unterdrücken. Fast wollte er, dass die Präsenz nicht seiner Einbildung entsprang, sondern ihn hörte, denn außer ihr existierte hier draußen nur die heraufkriechende Einsamkeit, die durch den abgebrochenen Kontakt zu seinen Kollegen, die hier auf Kallisto zugleich Familie waren, nur noch verstärkt wurde. Vielleicht war es tatsächlich nur kalte Einsamkeit, die seinen Verstand soweit zersetzte, dass er sich wirren Phantasien ergab. Adam stolperte weiter vorwärts. „Los, Kumpel! Du bist gleich da“, spornte er sich an.
Er hatte es schon lange unterlassen, hinter sich zu blicken. Seine Furcht, er könnte dort etwas Unbeschreibliches entdecken, hatte mit jedem Schritt zugenommen. „Alles gut! Es ist nur deine Scheißangst, Mann!“
Doch jeder Gedanke schrie danach, dass etwas ihn beobachtete. Dieses Etwas fühlte sich vollkommen fremd an, war aber verrückter Weise zugleich unglaublich vertraut. Jetzt lag die Station nur noch wenige Meter von Adam entfernt. Zumindest würde diese Einsamkeit bald enden.

*

Wäre einer der Forscher in diesem Moment in die Raumfähre gestiegen, er wäre sofort zurückgewichen, da ihm das eisige Gefühl von nie gekannter Einsamkeit sofort überflutet hätte. Im Inneren herrschte Stille. Nur das monotone Surren und Brummen der mechanischen Instrumente durchdrang das ansonsten schweigende Schiff. Es war, als hätten die Toten die Raumfähre übernommen.
Doch natürlich war kein Toter zu sehen. Nach wie vor war der Passagierraum leer und wurde sogar von behaglich warmen Deckenlichtern bestrahlt. Von dem Raum aus konnte man in das Cockpit sehen. Die Verbindungstür stand immer noch offen. Jedoch begrenzte die Rücklehne des Pilotensitzes die vollständige Sicht auf die Pilotin. Nur der schwarzhaarige Kopf von Delaila Bakary lugte hinter dem Sitz hervor. Beide Arme ruhten links und rechts auf den jeweiligen Lehnen.

*

„Welchem Zweck dient das Artefakt?“ Wiederholte Yamagata.
„Es verneint das Leben“, entgegnete Daniel. „Mira hat mir erklärt, dass die Überreste unserer Leute nicht organisch sind. Es ist, als wären sie nie lebendig gewesen. Wenn Mira Recht hat, sind Sonja, Nick und Michael nicht einfach vom Leben in den Tod befördert worden.
Sondern irgendein Auslöser hat ihr Leben negiert, zu einem existenzverneinenden Zustand, für den wir bisher keinen Namen haben, und die Hüllen, die dieses Leben beherbergt haben, hat es in groteske Puppen verwandelt“. Daniel führte sich das Bild seiner Frau vor Augen und hämmerte hilflos gegen die Konsole. Der dumpfe Schlag hallte durch den kaltmetallischen Raum.
„Vielleicht ist nicht Tod das Gegenteil von Leben, sondern dieser existenzverneinende Zustand“, sann Daniel weiter. „Was in der Stasiskammer unserer Raumfähre lagert, sind keine Toten. Es sind Säuglinge, die nie gezeugt worden sind!“
Yamagata fröstelte. Das verrückte an der Sache war, dass er die Möglichkeit in Betracht zog, dass Daniel recht haben könnte. „Daniel! Ich habe nicht vor herauszufinden, ob du mit diesem Unsinn richtig liegst. Verschwinden wir! Wir können Adam unterwegs aufsammeln“.
„Nein! Ich sehe trotz allem keinen Grund, kopflos in den Weltraum zu fliehen. Adam muss jeden Moment kommen. Wir warten!“

*

Mira Doreen warf einen letzten Blick auf ihr kleines Reich, schielte nochmal zu den Liegen, auf denen die Toten, bis vor Kurzem aufgebahrt waren. Sie versuchte deren Anblick aus ihrem Gedächtnis zu streichen, doch ohne Erfolg. Verdammt! Wenn etwas schon nicht existierte, müsste man doch annehmen, dass man es wie selbstverständlich vergisst. Aber genau das Gegenteil ist der Fall. Vermutlich würde sie die entarteten Leiber nie wieder vergessen, genau so wenig wie die letzten, kräftezehrenden Tage.
Erschöpft nahm sie das TNA mit den heruntergeladenen Krankenakten zur Hand und überprüfte die Daten. Da riss Mira ihre Augen auf. Alle Müdigkeit verschwand, als ihr ein klagendes Wimmern entkam.

Kurz darauf krachte Adam ungebremst gegen das Außenschott der Station. „Jetzt meldet euch schon! Ich glaube, etwas ist hinter mir her.“ Er spürte die Präsenz. Hungrig, unaufhaltsam und lautlos glitt sie heran. „Bitte Leute! Seid nicht ohne mich abgeflogen. Bitte, bitte! Ich will nicht der letzte Arsch auf diesen gottverlassenen Felsbrocken sein“.
„Adam?“ erklang Daniels Stimme über den Funk.
Adam atmete erleichtert auf. „Gott sei Dank! Daniel. Lass mich rein!“

„Schnell, Yamagata! Öffne das Schott“, befahl Daniel im Kontrollraum.
„Mit wem sprechen Sie da?“ In diesem Augenblick hastete Mira herein.

*

Was immer die Raumfähre getroffen hatte, es hatte sich zurückgezogen. Die Einsamkeit die das Schiff in eine psychische Kältekammer verwandelt hat, war nicht mehr zu spüren. Die Toten, oder die ‚nie gezeugten Säuglinge‘, wie Daniel sie nannte, lagen immer noch in ihren Stasiskammern, trotzdem hatte sich Delaila Bakary zu ihnen gesellt.
Nach wie vor saß die Pilotin in ihrem Sitz, doch wo einmal das hübsche Gesicht gewesen ist, wogte ein schwarzer Tümpel. Ein dicker Strang trat aus der Mitte hervor, doch anstatt zäh nach unten zu fließen, trotzte der Strang der Schwerkraft, und ergoss sich horizontal Richtung Cockpitscheibe zu einer schleimig aussehenden Pfütze, obwohl sich nicht erkennen ließ, ob die schwarze Substanz, die aus Delaila heraustrat tatsächlich flüssig war.
Hin und wieder zuckte der Leib noch auf, als wollte er sich gegen sein Verneinen wehren, auch wenn er von keiner Seele mehr bewohnt werden kann.

*

„Alles in Ordnung Doktor! Adam ist zurück“, sagte Yamagata und griff nach dem Hebel für den Schottöffnung.
„Um Himmels willen!“ Mira stürzte nach vorne und stoppte Yamagata im letzten Augenblick. „Nicht reinlassen!“
„Was ist los bei euch?“ fragte Adam durch den Sprecher.
„Mira! Sind Sie wahnsinnig?“ schimpfte Daniel.
„Das dürfen Sie nicht!“ Mira stemmte sich hartnäckig gegen Yamagata.
„Doktor! Adam ist da draußen und …“
„Es gibt keinen Adam!“ schrie Mira „Es hat nie einen Adam gegeben“.
„Mira…“
„Versteht doch! Was immer da draußen ist, ist kein Mensch.“
„Verdammt! Lasst mich endlich rein!“ rief Adam ärgerlich, der die hektische Debatte über Funk mitbekam.
„Bitte Doktor, beruhigen Sie sich!“ Yamagata versuchte sich aus Miras angstgeeisten Griff zu lösen.

„Also gut, Daniel!“ keuchte Mira. „Dann schildern Sie uns doch ein Erlebnis mit Adam. Was fällt ihnen spontan ein?“
„Sie benehmen sich lächerlich! Ich arbeite viele Jahre mit Adam zusammen.“ Daniel suchte eine Erinnerung an Adam: Da war das gestrige Basketballspiel, das er mit Yamagata, Adam und Delaila bestritten hatte, um auf andere Gedanken zu kommen. Heute besprachen sie beim Frühstück Adams Arbeiten beim Artefakt. Vor zwei Tagen sahen sie sich gemeinsam einen Film aus der Filmdatenbank an, um für einen Augenblick den Fund zu vergessen…
Aber dann kramte Daniel nach Ereignissen, die vor der Entdeckung des Auges lagen. Ereignisse wie… oder als Adam… oder als sie auf der Erde…

In Daniels Gesicht spiegelte sich wachsende Verzweiflung, und er erkannte an Yamagatas Ausdruck, dass es ihm ebenso ging.
„Wie ist das möglich?“
„Ich weiß es nicht“, weinte die Ärztin. „Ich habe die Krankenakten durchgesehen, und als ich auf Adams Datei gestoßen bin … Sehen Sie selbst!“
Mira reichte Daniel das TNA. Nach einem kurzen Augenschein, reichte er es kreidebleich an Yamagata weiter.
„Was ist das?“ Auf dem kleinen Display hätten eigentlich Adams Krankendaten erscheinen müssen. Aber es gab keine Daten. Stattdessen zeigte sich ruhend und schwarz, der Tümpel des Auges. Die veränderte Substanz des kleinen Schirmes wogte auf dem Gerät Unheil verkündend, wie Öl. Die Verneinung hatte auf den Bereich des Speicherchips zugegriffen, auf dem eigentlich Adams Daten hätten liegen müssen.
„Und wir haben auf ihn gewartet“, kicherte Yamagata. „Wir haben auf etwas gewartet, das nicht existiert!“ Dann folgte irrsinniges Gelächter, in dem keine Hoffnung mehr lag.

„Yamagata hat recht, Daniel!“ quoll eine unwirkliche Stimme aus dem Sprecher, und fast war der Gehalt der Stimme teigig greifbar. „Ich existiere nicht! Etwas wie ich, wird nie existieren.“

*

Die Präsenz der Verneinung hatte Miras Ausführungen gelauscht. Und jetzt wusste sie wieder, was sie war. Sie kam aus einem Raum, jenseits aller Räume und aus einer Zeit, fern aller Zeiten.

Das Wesen war mehr, als eine omnipräsente, rein instinktgesteuerte Natur – den Wahnsinn bringend aber ohne eigenen Willen.
Zwar hatte diese Natur (wenn man das Wesen als Solche bezeichnen wollte) Kallisto völlig vereinnahmt, aber ihr ganzes Bewusstsein war ortgebunden, da sie es abgespalten – und in eine selbst kreierte Fleischhülle der fremden Spezies gepresst hatte, um zu erforschen, ob diese Spezies bekömmlich wäre. Dem Wesen der Verneinung fiel es leicht, die Fleischhülle mit etwas auszustatten, dass die fremde Spezies ‚eine eigene Herkunft‘ nannte, – und es fiel leicht, die Mitglieder der Forschungsstation dementsprechend zu manipulieren.

Doch es hatte sich für kurze Zeit in dieser ungewohnt organischen Raupe verloren, – hatte sich in einer versehentlich erschaffenen Falle verstrickt und ein Bewusstsein wie das ihre entwickelt, bis sich das Wesen als Teil dieser Fremden identifizierte. Erstaunlicher Weise hatte es sogar um seine Beute getrauert, nachdem es sie verschlungen hatte. Dieses junge Volk, so unbedeutend es ist, besitzt außergewöhnliche, überraschend starke Eigenschaften.
Vielleicht würde sich ein Besuch ihrer Brutstätten lohnen. Zuvor aber wollte es weiter seinen Hunger stillen. Das Schott hielt es nun nicht mehr auf.

***

Überarbeitet Michael Sagenhorn Poing, Februar 2023 / Erstfassung © Michael Sagenhorn München, 2005

Anmerkung zu dieser Version der Geschichte:
Die Verneinung‘ ist eine erweiterte Neuauflage der Geschichte ‘Die Präsenz der Verneinung‘, die ich 2005 im Rahmen eines Wettbewerbs verfasst habe. Leider liegt es in der völlig verständlichen Natur von Geschichtenwettbewerben einen Rahmen für den Umfang einer Geschichte vorzugeben. Daher musste ich diese Geschichte extrem kürzen. Diese gekürzte Fassung habe ich damals eingereicht und wurde zudem sowohl auf meiner Homepage, als auch im Literaturheft pulp magazine Sonderausgabe 2007 veröffentlicht.

Jedoch habe ich bisher nie die Zeit gehabt, die komplette, wirkungsvollere Kurzgeschichte zu überarbeiten. Dies habe ich nun nachgeholt.

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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