Michael Sagenhorn/ Mai 16, 2022/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genre: Fantasy – Geeignet für alle Altersklassen

„Wenn das so weiter geht, sind wir Greise, bevor wir auch nur einen Fuß in den verdammten Wald gesetzt haben! Mach endlich! Oder meinst du, die Murzelpilze hüpfen von selbst in unsere Körbe?“ blaffte Paul Peiser seinen Bruder Janosch an.

Der mühte sich gerade mit dem Schweinchen Eberhart ab, welches für die Murzelpilzsuche unerlässlich war, da sich die begehrten Schwämme, ähnlich wie Trüffel, in der Erde versteckt hielten und nur mit einer feinen Nase erschnüffelt werden konnten. Eberhart quittierte jedes Gezerre an seiner Leine mit einem protestierenden Grunzen.
„Sei doch ruhig, Paul!“ fauchte Janosch genervt, obwohl der schmächtige Junge wusste, dass es nicht klug war seinen älteren Bruder den Mund zu verbieten, zumal Paul viel stämmiger war, und ihn beinahe um einen Kopf überragte. „Ebi ist nicht mehr der Jüngste und verbringt so einen kalten Herbstmorgen lieber im Stall. Hab’ Geduld! Er wird schon munter, wenn er die ersten Pilze wittert.“


„Vater hat recht! Du bist schwach! Unfähig einem Schwein Gehorsam beizubringen.“ Paul holte einen festen Stock, der am Wegrand, in der feuchten Wiese lag. „Ich zeige dir, wie das geht!“

Das Holz pfiff durch die neblige Luft – Klatsch! – Eberhart quiekte, seine aufgeregt schabenden Pfoten verspritzten die Kiesel in alle Richtungen, und Janosch hatte seine liebe Mühe, ihn an der Leine zu halten.
„Spinnst du? Mach’ das nicht noch mal!“


„Nun kommt das faule Vieh in Schwung“, grinste Paul. „So, Kleiner! Ich habe genug! Und zwar von euch beiden. – Manchmal glaube ich, der da ist mehr dein Bruder, als ich.“ Paul deutete verächtlich auf Eberhard. „Außerdem bin ich mit Leni am Hoppabach verabredet. Also mach den Rest allein! Selbst dir sollte es nicht schwerfallen, Vater mit einem halbwegs gefüllten Korb Murzelpilze eine Freude zu machen.“


„Aber er hat uns beide damit beauftragt!“
„Lass das maulen, kleiner Versager und geh endlich die Pilze ausgraben!“ Darauf marschierte Paul an der Gabelung des Feldweges davon.


„Na komm, Ebi“, seufzte Paul. „Wenn wir nicht genug Pilze finden, wird Vater wieder böse“. Janosch und das Schwein setzten ihren Weg zum Schlummerwald fort.

„Hör mal, Ebi! Vielleicht finden wir heute so viele Pilze, dass wir den Korb bis oben hin voll machen können“, träumte Janosch als sie zwischen den hohen Eichen des Waldes verschwanden. „Dann wäre ich so erfolgreich und beliebt wie Paul, und Vater würde mich endlich akzeptieren.“


Der Schlummerwald zählt zu den größten Wäldern der Welt Avalgaron, und wie alle Einwohner des beschaulichen Dorfes Kerzenbrück, mied es Janosch, zu tief in das uralte Gehölz vorzudringen, dessen Herz von unaussprechlichen Kreaturen beansprucht wurde. Allerdings siedelten auch an den lichteren Stellen äußerst lästige Wesen.
Da gab es daumengroße Waldnymphen, Föhrenfeen genannt, mit bunten Schwingen so fein, wie die von Libellen. Die Farbe ihrer hellen Augen glich der des wolkenlosen Himmels, und ihre Haut schimmerte, wie die aufgehende Sonne, zumindest an den Stellen, die nicht vom luftigen Kleidchen oder der langen, goldenen Haarmähne verdeckt wurden. Obwohl sie das ewige Alter des Waldes besaßen, fanden sie ungeheuren Spaß daran, Menschen durch ständiges Piken und Kitzeln zu necken. So kam es, dass sich die Feen bei Holzsammlern, Jägern und Wanderern keiner großen Beliebtheit erfreuten.


Eines dieser frechen Fräulein fing Janosch schon am Waldrand ab. „VERSCHWINDE ENDLICH, DU MOTTE!“ schallte es durch die Bäume. Die Fee surrte wild und kichernd herum und freute sich, da sie wieder ein Opfer gefunden hatte. Janosch fuchtelte verzweifelt mit seinen Händen, doch sie rief nur:
„Dummkopf! Du bist viel zu langsam!“
„Na warte! Jetzt habe ich aber genug!“ Janosch knüpfte Eberhards Leine los und wirbelte sie durch die Luft.


Die überraschte Fee schrie auf, wich aber elegant aus und ergriff die Flucht.
Doch herrje! Sie hatte sich kurz zu dem Jungen umgedreht und dabei nicht auf die dicke Eiche vor ihr geachtet. Die Föhrenfee krachte gegen die Rinde und trudelte benommen auf das weiche Moos.
Das war die Gelegenheit! Janosch flitzte hin und packte sie rasch, wie er es bei hüpflustigen Fröschen tat. „Hab’ ich dich, du Plagegeist!“ triumphierte er. „Hmmh! Aber was mache ich jetzt mit dir?“


„Bitte tu mir nichts! Lass mich fliegen. So lass mich doch frei“, flehte die Föhrenfee.
„Damit du mich wieder ärgerst? Das ist keine gute Idee.“
„Nein, nein! Ich werde dich nicht mehr ärgern, so wahr ich Eyla heiße. Ich gebe dir mein Wort und bin daran gebunden.“
Janosch brummte nachdenklich vor sich hin, während die Fee schniefte und schluchzte.
„Also gut!“ sagte er schließlich. „Ich werde dich loslassen, und sehen was dein Versprechen wert ist!“
Er öffnete er die Hand und – Hui! – schwirrte die kleine Fee davon.
„Danke“, strahlte Eyla. „Du hättest mich zerdrücken können, aber du hast mich verschont. Deshalb gewähre ich dir deinen Wunsch.“ Und ohne ein weiteres Wort flog sie zum Laubdach des Waldes hinauf.


„Meinen Wunsch? Warte!“ rief Janosch ihr verdattert nach. „Wie hast du das gemeint? Was für einen Wunsch?“
Doch Janosch bekam keine Antwort. Er blickte Eberhard skeptisch an und seufzte: „Da hat uns die Kleine aber ganz schön an der Nase herumgeführt.“


Doch die Föhrenfee hatte nicht gelogen, und Janosch kam zum Schluss, dass sie seine Worte zum Schwein bei den hohen Eichen belauscht haben musste. Denn an diesem Tag kehrte Janosch mit einem Korb Murzelpilze nach Hause zurück, so prall gefüllt, wie er es sich noch am Morgen erträumt hatte.

Es waren dicke, runde Pilze, die sich teuer verkaufen ließen. Und zum ersten Mal empfand sein Vater aufrichtigen Stolz. Und der war nicht der Einzige. Der Händler, dem Janosch die Pilze verkaufte, bemerkten seine liebenswürdige, Vertrauen erweckende Art, und versprachen ihm weitere gute Geschäfte für die Zukunft.

*

Paul aber beäugte Janoschs Erfolg mit Argwohn und Neid. Welches Geheimnis steckte hinter dieser plötzlichen Wandlung? „Was steckt dahinter?“ brüllte Paul. Er schüttelte Janosch kräftig durch. „Rede oder du erhältst die Prügel deines Lebens!“


Anfangs wollte Janosch die Fee nicht verraten, doch Paul kannte Mittel und Wege Anderen die geheimsten Informationen abzuringen.


„Eine Föhrenfee, also!“ Am Ende kam Paul immer ans Ziel. „Wo bist du ihr begegnet? Ich werde diesem kleinen Biest die Flügel ausreißen!“ Das meinte Paul zwar nicht wörtlich, aber er fasste einen ebenso bösen Entschluss: Gelänge es ihm der Fee habhaft zu werden, könnte er ihr Janoschs Erfolg heimzahlen und zugleich selbst einen Wunsch äußern.


Doch wie sollte er einer Fee, einem magischen Geschöpf eine Falle stellen? Da fiel ihm der alte Zauberer Graumbold ein. ‚Für einen Anteil an der Beute, weiß der bestimmt, wie man diesem frechen Ding Herr werden kann’, dachte Paul und bat den Zauberer um Rat.


Als Paul zwei Tage später, weit vor Tagesanbruch, den Schlummerwald betrat, hallten die Worte des mystischen Mannes immer noch in seinen Ohren:
„Eine Föhrenfee willst du fangen? Dann hör gut zu, Junge! Du benötigst junges Tränenharz von einem Borckelbaum. Dieses Harz gebe ich dir.“


Paul näherte sich einer hohen Eiche, die ihm angemessen schien. Sie wurzelte unweit von der Stelle, an der Janosch der Fee begegnet war. Hier bereitete er seine Falle vor.
„Bestreiche ein paar Blätter mit dem Harz. Föhrenfeen lieben diesen Leckerbissen. Sie wird ihm nicht widerstehen können.“


Paul nahm ein Gurkenglas aus seinem Beutel und betrachtete erwartungsvoll die Blätter darin. Er löste den Korken und steckte das Glas in ein Astloch, das sich in Schulterhöhe befand. Das Glas passte genau. „Aber sieh dich vor, Junge, dass sie dich nicht bemerkt! Nicht bevor sie mit den Blättern zugange ist. Erst dann kannst du dich ihr nähern.“


Also verschwand Paul im nahegelegenen Dickicht. Nun musste er warten, bis zum Sonnenaufgang, denn bei Dunkelheit trauen sich die Feen nicht heraus. Die Stunden vergingen. Paul war nahe daran aufzugeben, doch dann – „Keine Sorge! Sie wird kommen! Sie wird dir arglos in Falle gehen!“

Pauls Herz klopfte. „Geh schon rein du kleines Biest!“
„Der ungewohnte Duft des Tränenharzes lockt sie und verführt sie, denn diesen Wesen sind Leid und Trauer fremd. Wenn sie sich vollständig im Inneren befindet, dann schlag zu! – Schnell! Schnell musst du sein, wie ein anklagender Gedanke, und wenn der Augenblick naht …“

„JETZT!“ rief Paul und schlug den Korken auf das Gurkenglas. Ein schriller Aufschrei wurde erstickt.


Paul nahm das Glas aus dem Astloch. „Nun zu uns! Wenn du wieder frei sein willst, dann musst du mir einen Wunsch erfüllen. Und erzähle mir nicht, dass du das nicht kannst! Schließlich hast du für meinen unnützen Bruder das Gleiche getan.“


„Einen Wunsch?“ keifte die kleine Fee. „Du bist hinterhältig und gemein. Du hast mich in eine Falle gelockt. Nein! Dir erfülle ich keinen Wunsch!“
„So?“ Paul schüttelte das Gurkenglas kräftig durch.
„Hör auf! Du tust mir weh!“ rief Eyla verzweifelt.
„Dann unterhalten wir uns über meinen Wunsch?“ grinste Paul.

„Nein! Für dich gibt es keinen Wunsch. Und wenn du mich den ganzen Tag durchschüttelst!“
Paul zuckte teilnahmslos mit den Schultern. „Wie du willst!“ Er nahm das Gurkenglas unter seinen Arm und spazierte los.
„Was hast du vor?“ bibberte Eyla. „So rede doch!“

„Ich kann dich also nicht dazu bewegen, mir einen kleinen Wunsch zu erfüllen. Das respektiere ich. Aber du musst auch verstehen, dass meine ganze Mühe nicht umsonst gewesen sein soll. Ich kenne da einen Zauberer, der haust in dem Turm am Rande Kerzenbrücks. Mit dem werde ich sicher handelseinig. Ich glaube, er benötigt dich als Zutat für eine Flugmixtur.“

„Was!“ Eyla flatterte erschrocken mit den Flügeln. „Doch nicht der böse Graumbold? Da darfst du mich nicht hinbringen! Ich würde eines qualvollen Todes sterben.“

„Wie bedauerlich“, gähnte Paul. „Aber ich bin nicht mein naiver, im Dreck wühlender Bruder, sondern Geschäftsmann. Entweder kommen wir ins Geschäft oder ich besuche Graumbold mit dir – Also?“

„Na gut“, seufzte die Fee. „Du bekommst deinen Wunsch. Ich gebe dir mein Wort, und bin daran gebunden. Nun lass mich endlich frei!“

Da lachte Paul. Er öffnete das Gurkenglas und Eyla schwirrte heraus.

„Deine Gegenwart bedrückt mich“, erwiderte Eyla erschöpft. „Sag nur schnell deinen Wunsch.“

„Hör gut zu! Ich will der erfolgreichste Murzelpilzsucher von Avalgaron werden.“

Da erhellte sich Eylas Antlitz auf merkwürdige Weise. „Bist du sicher? Das ist dein Wunsch?“

„Was weißt du denn schon, du dumme Fee! Murzelpilze bringen Gold. Viel, viel Gold! Und Gold bedeutet Macht. Jetzt mach!“
„Dein Wunsch ist schon erfüllt!“ Dann schoss Eyla kichernd davon.

Vier Wochen waren verstrichen. Das Haus der Peisers besaß nun einen Anbau, und Vater Peiser hatte seinen Grund um einen Landstrich erweitert.

Die letzten Tage waren äußerst gewinnträchtig gewesen. So viele Murzelpilze hatten sie noch nie verkauft. Am Ende lief alles glänzend für die Familie Peiser, und jeder wäre wohl glücklich gewesen, hätte ein harter Schicksalsschlag sie nicht eines ihrer Söhne beraubt. Paul war eines Tages spurlos verschwunden.

Vater Peiser ließ nichts unversucht, um seinen Jungen zu finden, doch bis heute verlief jede Spur im Sand. Nur Janosch hatte einen Verdacht, aber er schwieg.
Der Junge streichelte gerade seinen neuen Partner über die Borsten. Das Schweinchen war ihm vor gar nicht allzu langer Zeit zugelaufen. Es war ein wirklich gut ausgebildetes Schweinchen. Kein Vergleich zum alten Eberhard, der nun seinen Ruhestand genießen durfte.

Jeden Pilz schnüffelte das schlaue Schwein findig und zielsicher auf, und steckt er auch noch so tief in der Erde. Ja, es schien beinahe, als wäre es der erfolgreichste Murzelpilzsucher, der sich auf Avalgaron finden ließ.

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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