Michael Sagenhorn/ Juli 18, 2022/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genre: Horror, Mystery – Geeignet ab 16 Jahren

Seit Jahrhunderten steht in einer entlegenen ungarischen Gegend, umgeben von dichten Wäldern, eine noch gut erhaltene Burg. Die Einsamkeit aber, die die Burg verbreitet trügt, denn vor einigen Jahren begannen die ersten Touristen zu ihr zu pilgern, um für ein paar Tage den Hauch des Mittelalters einzufangen.

Eine dieser Reisegruppen erreichte die Burg am späten Nachmittag. Tobias atmete erst mal befreit tief ein, als er den engen Bus verließ. Er streckte seine, von der langen Fahrt müde gewordenen Glieder. Dann wurden er und anderen Teilnehmer der Fahrt von Birgit, der Reiseleiterin in den Eingangsbereich der Burg geführt, wo jeder ein Zimmer zugewiesen bekam.
Um 18 Uhr servierte man das Abendessen, was Birgit Gelegenheit gab, ihre Gruppe mit einer schaurigen Geschichte auf die kommende Nacht einzustimmen.

Tobias stellte ermattet, durch die lange Fahrt fest, dass ihm eigentlich nicht der Sinn nach urbanen Legenden stand. So lauschte er mehr gezwungen als interessiert ihrer Geschichte, die sie wohl jeder Gruppe auftischte.
Wie Tobias richtig vermutet hatte, handelte das Schauermärchen von dieser Burg. Ein grausamer Baron, hatte hier einstmals gelebt. Die Grausamkeit des Barons soll sogar die Hölle angewidert haben.
Doch der Baron besaß auch eine wunderschöne Gemahlin, voller Wärme und Güte. Die Ärmste hatte den Tyrannen bereits in jungen Jahren ehelichen müssen, und wurde von ihm täglich an Leib und Seele gequält. Das wiederum gefiel der Hölle. So ist es recht! dachte die Hölle. Und sie lechzte nach dieser gebrochenen, aber unverdorbenen Seele, deren Güte nicht mal durch die Qualen des Barons gemildert wurde. Nichts schmeckte so süß für die Hölle, wie Unschuld vermischt mit Leid. So bekam die Baronin am Ende einen grauenhaften Lohn für ihr schmerzvolles Leben, doch der Hölle schien’s gerecht.
“Die Geschichte erzählt…” endete Birgit, “…die Baronin sei in ein schreckliches Wesen verwandelt worden. Sie soll viele Menschen getötet haben. Der Baron war übrigens ihr erstes Opfer.”


Eine dumme und brutale Geschichte, stellte Tobias für sich fest, als sie sich schließlich erhoben. Darüber hinaus kümmerte ihn das Schicksal dieser erfundenen Baronin nicht.

*
Stunden später schaute Tobias auf die Armbanduhr. „Gerade mal zwei durch!“ Ungewohnte Geräusche hielten ihn wach. Die Wände besaßen unzählige Ritzen, die dem Wind als Durchschlupf dienten. Er brachte die uralten Steine zum Singen. Das Bett knarrte mit den übrigen Möbeln um die Wette. Irgendwo klopfte es in unregelmäßigen Abständen.

Klopf – Klopf – dann brach es abrupt ab.


Doch immer dann, wenn die Lider schwerer wurden, begann es wieder.

Klopf – Klopf.

Tobias war genervt. Ab und an kam ein Geräusch hinzu, das sich anhörte, als würde ein Ast an die Speichen eines sich drehenden Rades gedrückt. Tobias musste an die Worte seines Großvaters denken: „Alte Gebäude leben, Tobi! Wenn Gebäude einmal ein bestimmtes Dasein überschritten haben, nehmen sie die Gewohnheiten derer an, die in ihnen wohnen. Alte Gebäude werden selbst zu ihren Bewohnern.

Tobias versuchte sich abzulenken. Er dachte an Agnes. 17 Jahre waren sie zusammen. Sein halbes Leben. Im nächsten Jahr wollten sie endlich heiraten. Und nun war alles vorbei. Alles aus, weil er einen Fehler begangen hatte. Da war diese Frau. Er hatte sie auf der Geburtstagsfeier eines Freundes kennen gelernt. In derselben Nacht war er mit zu ihr gegangen, – und hatte unglaubliche Dinge erlebt. Dinge über die er sich mit Agnes nicht einmal zu sprechen getraut hätte. War es der Alkohol? War es die Aussicht auf Erfüllung seiner geheimsten Träume? Egal! Als Agnes davon erfahren hat, war alles vorbei. 17 Jahre weggeworfen wegen einer einzigen Entgleisung. Sie ließ keine Entschuldigung gelten.

Verdammtes Miststück! Agnes hätte ihn alles verziehen, nur einen Seitensprung nicht. Ein Seitensprung zerstört das Vertrauen, auch wenn man ihn bereitwillig beichtet. Ohne Vertrauen, kann es keine Beziehung geben. – Auch nach 17 Jahren nicht. Auch dann nicht …

Ein neues Geräusch! Eine Melodie klingt durch den Wind. Melancholisch, doch seltsam schön. Sie bohrte sich in Tobias’ Verstand. Selbst als er die Ohren zu hielt, erklang sie noch. Tobias sprang aus dem Bett. Wo ist der Ursprung dieser schmeichelnden Melodie? Tobias musste ihn finden.
Als er auf den Gang trat, drang die kalte Nachtluft durch den dünnen Pyjama und sorgte für ein unangenehmes Frösteln. Durch die schmalen Fenster fiel fahles Mondlicht. Es wies Tobias den Weg zur Treppe. Das Windlied war hier deutlicher zu hören. Es kam sicher aus einem der unteren Räume. Tobias schritt zum Erdgeschoss hinab.

Ein Schatten! Etwas huscht durch die Eingangshalle. “Birgit?”

Keine Spur von der Reiseleiterin. Ein anderer Nachtschwärmer aus der Gruppe? Wurde noch jemand von dem Windlied angezogen? Die große Halle gähnte leer und dunkel vor ihm. Anscheinend hatte er sich geirrt.
Also jagte Tobias weiter nach dem Windlied. Dabei durchquerte er die Halle, bis er links vor einer schweren Tür zum Stehen kam.

Durch den Spalt im Boden schien warmes Licht. Kein Zweifel! Der Ursprung war zum Greifen nah! Mit klopfenden Herzen schob er den Riegel zur Seite und öffnete die Tür.
Dahinter: Ihm dem Rücken zugekehrt, stand eine zierliche Frau im dunkelroten Schlafrock, vor einem Kamin. Ihr dichtes Haar reichte bis zu den Hüften und schimmerte im Licht des prasselnden Feuers Rotgold.
“Entschuldigung?” warf er leise in das Herrenzimmer.

Die Frau wankte herum. Tobias erblickte ihr Gesicht. Er stöhnte unbewusst auf. Der Frau fehlte alles. Sie besaß weder Augen, noch Mund, noch Nase. Stattdessen gähnte eine Vielzahl pechschwarzer, unterschiedlich großer Löscher in ihrem Haupt. Hautfransen hingen daran herab, und flatterten unruhig im Wind, den das Wesen mit der Melodie herausblies.
“Großer Gott!” hauchte Tobias.

Das Wesen ließ einen seufzenden Ton erklingen. Dann kam es näher.
“Bleiben Sie weg!” Starr vor Schreck, gaffte Tobias mit hervorquellenden Augen auf die Frauengestalt.

In ihren Bewegungen lag nichts Menschliches, und ihre Schritte waren kaum noch wahrnehmbar. Sie spielte mit dem Schlafrock; der schwere Stoff öffnete sich und glitt herab. Darunter glänzte porzellanglatte Haut, perfekt und ohne Makel, als wäre sie von fachkundiger Hand entworfen worden. ‚Das ist keine Frau!’ erkannte Tobias. ‚Das ist … das ist …’

Er wich zurück, stieß dabei an die Tür und drückte sie ins Schloss. Tobis hatte Mühe seinen Verstand bei sich zu behalten. Dieses flötende, jammernde Ding ist ein Instrument! Anders konnte Tobias es nicht beschreiben.
Das unwirkliche Instrument verharrte dicht vor ihm. Nun spürte er dessen singenden Lufthauch auf seinem Gesicht. Er roch Thymian und noch etwas anderes, beißend Süßliches das er nicht einordnen konnte.

Tobias blickte mit weiten Augen durch die ausgefransten Löcher. Dahinter klaffte ein finsteres Reich, jenseits eines vernunftvollen Gedankens.

Die aufgepeitschten Hautlappen streiften seine Lippen, die Windmelodie raubte ihm fast das Bewusstsein, ließ ihn in Faszination schwelgen und zugleich unbeschreibliche Schrecken erleiden.

Das Instrument schmiegte sich an ihn, das Lied enthielt nun einen auffordernden Unterton. Da berührte Tobias die Schultern des Instruments, seine Finger begannen sanft herab zu wandern. Die Töne wurden heller, der Schwung des Liedes nahm zu. Der Rhythmus des Instruments passte sich Tobias’ Handbewegungen an, und sein Hauch versprach Entdeckung. Das Instrument wandte den Kopf zu ihm hoch, als wollte es ihn mit unsichtbaren Augen begutachten und ihn bitten es innig zu spielen. Tobias drückte es an sich, seine Furcht verschwand, während er das Instrument zu beherrschen versuchte. Im Rausch vernahm er den Klang, der ihn aus dieser Welt entführte, ihn dazu verführte, das Instrument zu erkunden.
Er wollte dessen Töne bis an die Grenzen ausreizen. Um es perfekt zu spielen benötigte er nicht nur die Hände, sondern seinen gesamten Körper. Und es ließ sich alle Lieder entlocken, flötete fordernd nach weitern Klängen der Windmelodie. Sie tanzten im Takt, das Instrument und der Spieler, innig verschmolzen, durch uralte Symphonien, und Tobias lernte mit jedem Ton weiter.

Des Instruments Haare richteten sich auf und umschlangen Tobias’ Gesicht, raubten ihn die Sicht auf die monströsen Abgründe. Das Instrument rieb sich an ihm und half so es ganz zu entdecken. Doch hinter den lockigen Saiten rang Tobias nach Luft. Es singt von dem hohen Preis der zu entrichten wäre, es zu beherrschen. Da bemerkt er endlich die Gefahr. Entsetzt begann er zu zittern, was sich unmittelbar auf sein Spiel auswirkte. So dröhnte die Windmelodie, erzählte vom Hunger des Instruments, enthüllte dessen schreckliche Gelüste.

Die Töne stülpten sich um, das Instrument begann an seiner Seele zu saugen, als das Lied zum Höhepunkt kam. Die Melodie erklang rückwärts, was sie noch verführerischer machte. Tobias wusste nicht, woher seine letzte Willenskraft kam.
‘Entweder jetzt …’ dachte er verzweifelt durch die Sinne der Melodie hindurch. ‚… oder ich bin für immer verloren! ’ Er stieß das Instrument beiseite. Die Saiten lösten den Griff mit schmachtendem Laut.

Tobias riss die Türe auf, lief panisch nach oben und schloss sich in seinem Zimmer ein. Dort lauschte er zitternd und schwitzend und wiegte sich selbst. “Bitte!” flehte er “Bitte lass es mich nicht hören! Lass es mich nie wieder hören!”

Er lauschte und lauschte und lauschte, bis die Nacht zu Ende ging. Bei jedem Geräusch zuckte er zusammen, aus der Angst heraus, es könnte die Windmelodie sein. Doch die Windmelodie erklang nicht mehr.

*
Am nächsten Morgen erzählte er nichts von letzter Nacht. Doch er fragte den Burgverwalter nach dem Herrenzimmer.

Birgit übersetzte die Antwort: Dieses Zimmer ist schon seit vielen Jahren verschlossen. Noch im vorletzten Jahrhundert wurden darin immer wieder Menschen tot aufgefunden. Man sagt, jene die die Leichen gesehen haben, konnten deren Anblick ihr Leben lang nicht mehr vergessen.

Tobias fröstelte. Er aber würde die Melodie nie wieder vergessen und deren Ursprung: Das Instrument.

Bildquelle: © Michael Sagenhorn

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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