Die meisten würden ES wohl dem Horrorgenre zuordnen. Schließlich ist der Film auch bekannt, als der bisher erfolgreichste Horrorfilm aller Zeiten, wenn es um Einspielergebnisse geht. Damit rangiert er noch vor The Sixth Sense und Der Exorzist.
Jedoch geht die Geschichte weit über normalen Horror hinaus. Stephen King erschuf nicht einfach ein mordendes Ungeheuer oder einen schizophrenen Serienkiller. Der Horror von ES ist filmtechnisch auch nicht mit einfachen Jump-Scares oder verwackelten Kameraeinstellungen einzufangen.
King schuf ein Wesen, das man im Grunde bei H.P. Lovecraft erwarten würde. ES in seiner Reinform ist gut mit Lovecrafts Azathoth oder Cthulhu vergleichbar. Beides uralte und übermächtige Entitäten. Wie Cthulhu schläft ES für lange Zeit auf unserer Welt. Doch im Gegensatz zu dem Großen Alten bringt das Erwachen von ES nicht gleich den Weltuntergang – katastrophal ist IHR Erwachen trotzdem…
ES ist Horror, Dark Fantasy und Coming-Age in einem – auch ein bisschen Science-Fiction, wenn man so will, denn die Bedrohung kommt von den fernen Sternen und sogar von den Reichen dahinter.
Für mich stellt ES den Höhepunkt von Stephen Kings Schaffen dar. Nie zuvor und auch nicht mehr danach sollte mich eines seiner Bücher so sehr in Bann ziehen. Den Roman habe ich fünfmal gelesen und die Filme, Teil1 von 2017 und Teil2 von 2019, je zweimal gesehen. Die Miniserie von 1990 wird hier keine Rolle spielen.
Die Handlung kurz zusammengefasst:
Zeitfenster im Buch
Kindheit der Protagonisten: 1957 bis 1958
Erwachsene Protagonisten: 1984 bis 1985
Zeitfenster im Film
Kindheit der Protagonisten: 1989
Erwachsene Protagonisten: 2016
In der Kleinstadt Derry geschehen grauenhafte Morde an Kindern. Andere Kinder sind spurlos verschwunden. Eins dieser kleinen Opfer ist Georgie. Der zwölfjährige Bill Denbrough, Georgies älterer Bruder will sich mit dessen Verschwinden nicht abfinden. Gemeinsam mit seinen Freunden Mike Hanlon, Ben Hanscom, Beverly Marsh, Stan Uris, Richie Tozier und Eddie Kasprak gründet er den Club der Verlierer.
Sie wollen dem Geheimnis von Georgies Tod auf den Grund gehen, und entdeckend dabei immer mehr Kinder, die anscheinend einem unheimlichen Clown, Pennywise zum Opfer gefallen sind. Pennywise schien schon immer in Derry gelebt zu haben. Alle 27 Jahre kehrt er zurück. Und hinter der Fassade des Clowns, lauert ein Wesen das zu begreifen über den menschlichen Verstand geht. Trotzdem nimmt der Club der Verlierer den Kampf auf, um ES zur Strecke zu bringen…
Stephen King ist dafür bekannt, übernatürlichen Schrecken in alltägliches bürgerliches Leben zu pflanzen. Dort wächst er, breitet sich aus, bis er das Geschehen der Geschichten dominiert, indem er die bislang realen Probleme, Sorgen und Nöte verdrängt. Ehedramen, Krankheiten, Existenzsorgen treten in den Hintergrund, bis das blanke Grauen völlig die Handlung bestimmt.
In vielen Büchern lässt sich King dafür Zeit. Es ist ihm wichtig, dass der Leser Charaktere und Milieu kennenlernt, weil diese Elemente oft entscheidende Bauteile sind, seinen Horror zu stützen. In ES legt das Grauen in Form von Pennywise, dem Clown aber ungewöhnlich schnell los. Im Prinzip ist diese übernatürliche Kraft sofort in der Geschichte präsent, was vielleicht daran liegt, dass Derry, die Kleinstadt in der ES spielt direkt mit der Kreatur verbunden ist. Nicht nur ein Haus wie in vielen anderen Geschichten, sondern eine ganze Stadt ist auf anfangs unerklärliche Weise direkt mit dem Monster verbunden, quasi der stinkende Atem einer verdorbenen Seele. Und als wollte King diesen Umstand unterstreichen, lebt seine Kreatur in den Abwasserkanälen, also an einem Ort den wir zwar für ein modernes Leben brauchen, aber viele von uns gar nicht ins Bewusstsein rücken wollen. Jener düstere, übelriechende und nasskalte Ort, der eine Analogie für allen menschlichen Unrat und dunklen Abgründe ist. ES gedeiht hier hervorragend.
Und die Opfer? Auf geheimnisvolle Weise werden sie irgendwann vergessen, – von der Kleinstadt verschluckt, nur noch eine Notiz in den alten Zeitungen der Stadt. Der Killer-Clown geistert durch die Jahrhunderte. Oft wahrgenommen, sogar fotografiert. Die Bewohner von Derry sehen ihn, aber sie registrieren ihn nicht.
All das macht ES für mich zum unheimlichsten Buch, das ich bisher gelesen habe.
Es sind nicht die zum Teil abstoßenden Morde, die mir Gänsehaut bereiten, vielmehr ist es diese unnatürliche Allgegenwart von Pennywise, dem Clown. Allein sein Auftauchen fühlt sich für mich an vielen Stellen des Buches irgendwie unecht an. Da ist zum Beispiel diese stille Szene, als der Junge Ben Hanscom sieht, wie Pennywise aus der Ferne auf ihn zustapft. Der Junge war ganz allein, und der Clown kam immer näher. Ben war verwirrt. Es dauerte eine Weile, bis er einordnen konnte worauf seine Verwirrung beruhte. Der Clown trug eine Traube schwebender Ballons. Und ’sie alle schweben‘ nicht nur, wie Pennywise immer sehr schön zu sagen pflegt. Sie schwebten gegen den Wind. Ein seltsamer Clown, und Ballons, die gegen die Windrichtung schweben? Als Ben das Szenario begriff, rannte er vom Entsetzen gepackt davon.
Jedes der Kinder das dem Club der Verlierer angehörte, wusste eine ähnliche Geschichte zu erzählen. Und sie begriffen, wenn sie ES nicht zur Strecke brächten, würde ES sie eines Tages verschlingen, denn Bill, ihr Anführer war auf der Suche nach Georgies Mörder dem Wesen schon zu nahegekommen.
Die Abenteuer der jungen Protagonisten macht die Geschichte auch zu einem Comming-Age Abenteuer, das reale Probleme von heranwachsenden Menschen anspricht. Als ich ES zum ersten Mal las, war ich nur ein bisschen älter als die jungen Protagonisten, was mich noch tiefer in die Geschichte eintauchen ließ.
Das letzte Mal las ich ES 2018, nachdem ich den ersten Teil des Films gesehen hatte. Ich hatte den Roman mindestens 20 Jahre nicht mehr gelesen. Ich las ihn diesmal aus der Perspektive eines erwachsenen Familienvaters, der nun selbst zwei Kinder hat. Die Art des Grauens, die das Buch jetzt vermittelte war eine ganz andere, als damals. Der Tod der Kinder in der Geschichte (der Film vermag die Tode nicht mal ansatzweise wiederzugeben), damals für mich ein nur Zweck die Gefahr in der Geschichte darzustellen, bereitete mir heute Gänsehaut. Auch schreckliche Ereignisse, die nichts mit Pennywise zu tun haben, ließen sich teilweise nicht leicht ertragen.
Eigentlich wollte ich das Buch 2018 nur noch mal gegenlesen, weil mich der Film etwas ratlos zurückgelassen hatte. Irgendwie hat er mir schon gefallen, dieser Film. Hin und wieder kam auch richtiges ES-Feeling auf.
Bill Skarsgård hat den bösen Pennywise auch gut verkörpert, – viel besser als der sonst von mir geschätzte Tim Curry, in der Mini-Serie von 1990. Doch Bill Skarsgård kam nicht annähern an den Pennywise heran, den ich mir beim Lesen des Buches vorgestellt habe. Jenem Pennywise, den ich als Teenager nachts in den dunklen Ecken meines Zimmers sah, und von dem ich dachte, er wolle sich auch von meiner Angst ernähren.
Das ist ein Schicksal, das sich viele Romanverfilmungen teilen. Die eigene Fantasie schlägt die realen Bilder des Filmes.
Meiner Meinung nach haben die Filmemacher viele Elemente gut von Buch zu Film übersetzt, – quasi Szenen aufbereitet, die im Buch gut wirken, aber im Film, ihre Kraft nicht entfalten können. Daher muss man für den Film die Szenen neu interpretieren. Das Ritual von Chüd ist so ein Beispiel. Im Buch wird Bill in das Makroversum, zu den ‚Totenlichtern‘ geschleudert. Er und ES müssen sich gegenseitig auf die Zunge beißen und sich Witze erzählen. Wer zuerst lacht, hat verloren. Das Ganze ist natürlich psychisch zu verstehen, aber trotzdem: wie soll man das in einem Film umsetzen?
Trotz der eigentlich guten Umsetzung war ich ratlos. Dieser Film hinterließ nicht den kleinsten Schauer in mir. ES war einfach nicht unheimlich. Dieses Wesen, das sich von Angst ernährt, fand ich so gruselig, wie Enrico der Clown in der alten Kindersendung Am Dam Des.
Auch andere Antagonisten, die typischen bösen Jungs bei Stephen King, lösten in mir weder ein Unwohlsein, noch Mitleid, noch Ärger aus.
Das Enttäuschendste war aber, ich erlebte kein Abenteuer von jungen Menschen auf der Leinwand, so wie ich es im Buch in Erinnerung hatte. In diesem Zusammenhang gefiel mir Stand by me, auch eine King-Verfilmung, sehr viel besser.
Habe ich mich so verändert, fragte ich mich, nachdem ich den Film gesehen habe. Also nochmal das Buch hervorgekramt, entstaubt und losgelesen. Und da war ES wieder! Das alte Grauen kehrte zurück. Aus der bereits oben beschriebenen Perspektive lernte ich die Geschichte neu kennen. Der Roman hat nichts von seiner düsteren Faszination verloren.
Pennywise hat viele inspiriert, doch die heute allseits bekannten Horror-Clowns können das Original nicht erreichen.
Besonders die belanglosen Clown-Splatter-B-Filmchen rühmen sich in ihrer Promotion damit, noch blutiger und brutaler als ES zu sein. Doch ES ist viel mehr als ein Monster das von den Sternen kam. Wie jeder Clown ist Pennywise nur eine Maske. Nimmt man sie ab, tritt der düstere Schatten unserer Seelen zu tage. ES verkörpert unsere kollektiven Ängste.
Dazu gehört auch die Angst vor dem Verlust eines geliebten Menschen. Oft stellen wir uns hier den Tod vor. Aber es gibt auch andere Schicksale, die Menschen auseinanderreißen. In der Geschichte sorgte die geheimnisvolle Auslöschung der Erinnerung aneinander dafür, dass die Mitglieder des Clubs der Verlierer getrennte Wege gehen. Langsam vergaßen sie den jeweils anderen. Dies war der grausame Preis, den sie zu zahlen hatten, weil sie als gewöhnliche Sterbliche einer so unsagbaren Kreatur wie ES gegeübergestanden sind.
Im zweiten Teil des Films wird erwähnt, dass der erwachsene Bill Denbrough, inzwischen ein namhafter Schriftsteller, ein erfolgreiches Buch mit dem Titel The Black Rapids geschrieben habe. An verschiedenen Stellen des Films wird festgehalten, dass Bill jedoch das Ende misslungen ist. Selbst Stephen King merkte in seinem Cameo-Auftritt an, dass er das Ende des Romans schlecht gefunden hat. Ich bin mir nicht sicher, aber ich könnte mir gut vorstellen, dass das eine Anspielung auf King und den Roman ES selbst war. Es ist gut möglich, dass vielen Menschen das bittersüße Ende von ES nicht gefallen hat.
Im Film wurde das Ende umgeschrieben. Glattgebügelt! So funktioniert nun mal die Marktwirtschaft. Trotzdem Schade! Denn das Buch macht aufgrund des Verlustes deutlich, wie unglaublich kostbar die Beziehungen zwischen Menschen sein können.
Und wie jedes Mal musste ich mir, nachdem ich die letzte Seite gelesen hatte, eine Träne verkneifen.
Fotos und Artwork: © Michael Sagenhorn 2022