Michael Sagenhorn/ April 15, 2022/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genre: Science-Fiction – Geeignet für alle Altersklassen

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Der Große Xoork wanderte mit Sorgen beladener Miene durch die leeren Fabrikhallen, der Produktionsstätte B, dort wo gewöhnlich ergreifende Liebesgeschichten und einfache Schnulzen hergestellt- und mittels komplexer Technik, der so genannten Fantonie, in die Köpfe kreativer Menschen eingepflanzt werden.
Derzeit arbeitete jedoch niemand an den gewaltigen Apparaturen, bestehend aus Schmachtröhren und Herzschmerztriebwerken, verschmiert mit Wehmutsgelee und Schmonzettenöl.
Nach der Sitzung des Senats hatte der Große Xoork alle Arbeiter zu einem Krisengespräch zusammenrufen lassen, denn ein sofortiges Handeln war unvermeidbar geworden. Von der schnellen Umsetzung des Senatsbeschlusses hing das Schicksal der Menschen ab, vielleicht sogar das Schicksal der Lesagen. Immerhin gehört das Volk der Lesagen, zu den dienstbaren Geistern der Menschen, auch wenn die Menschen aufgrund ihrer niedrigen Entwicklungsstufe nichts von den Lesagen und ihrem Reich, der Utopiemaschine wussten. Das war auch gut so, denn ein Mensch hätte das Konzept der Utopiemaschine eher als beunruhigend empfunden, da das monströse Konstrukt den größten Teil des Kosmos einnahm. Es schlummerte jedoch im Netz der dunklen Materie, und konnte unmöglich von den dreidimensionalen Bewohnern diesseits des Raumes entdeckt werden. Selbst sehr hoch entwickelten Arten, jene die es verstanden das Raum-Zeit-Gefüge künstlich zu formen, blieb die Maschine der Lesagen verborgen. Doch jedes Lebewesen spürte ihre Präsenz. Hätten die Wesen dieses Universums mehr als einen Hauch davon gespürt, – wären sie sich bewusst gewesen, dass nicht alle Ideen von ihnen selbst kommen, wären sie womöglich den Wahnsinn verfallen. Das galt nicht nur für die Menschen, sondern für alle Bewohner dieses Kosmos.

„Meine lieben Freunde!“ begann der Große Xoork, als er den Vorsaal mit den versammelten Arbeitskräften betrat.
„Die Lage auf unserer Obhutwelt ist überaus kritisch! Die Fantasie der Menschen hat in den letzten Jahren einen kontinuierlichen Rückgang erlebt, originelle Ideen nehmen weiterhin ab. Geschichten gleichen sich, wie Hühnereier, vor allem Filmfortsetzungen sind bei den Menschen im Trend, wobei fast jeder neue Teil, verglichen zu seinen Vorgängern, oft an Qualität verliert.
Beim Fernsehen der Menschen ist seichte Unterhaltung Standard geworden. Welchen aufrichtigen Lesargen schmerzen zum Beispiel nicht die andauernden Dokusoaps, deren Handlungen die Frage aufwerfen, ob die Verantwortlichen die Intelligenz ihrer Zuschauer ernst nehmen. Dieses und andere Konzepte werden auch noch schamlos kopiert und bis zum Abwinken vermarktet.“
Der Große Xoork legte eine Schweigeminute ein, als müsste er seine eigenen Worte erst verdauen. Auch die Arbeiter schwiegen betroffen. Jedem war die Lage bewusst. Dann setzte der Große Xoork seine Rede fort:
„Ich könnte noch viele Beispiele anführen, -und viele Missstände, die auch in anderen Medien vorherrschen, doch ich glaube das erspare ich uns. Sie alle wissen ja Bescheid. Den meisten Menschen ist die Krise bekannt, doch sie glauben sie seien selbst daran schuld. Sie vermuten, dass den Verantwortlichen der Mut fehle, neuen Ideen eine Chance zugeben, andere Menschen bezichtigen ihr Universaltauschmittel Geld, da es stark süchtig macht. Wieder andere wollen neue totalitäre Ideologien unter dem Deckmantel der Rechtschaffenheit ausgemacht haben, die schöne Geschichten, in hohle politische Statements verwandeln.
Wir aber wissen es besser! Daher hat der Senat beschlossen, unsere veraltete Fantasieentwicklungsumgebung Musen einzutauschen gegen das brandneue FDT 4120, ein Fantasy Developer Tool mit unglaublicher Leistungskraft, denn was zu Homers Zeiten noch brauchbare Geschichten hervorgebracht hat, ist heute nicht mehr unbedingt noch zeitgemäß.
Morgen legen wir los, meine Freunde! Die Umstellung soll in sechs Monaten abgeschlossen sein.“
Da begannen die Arbeiter zu tuscheln, aufgeregtes Raunen erfüllte den Saal wie ein dumpfes Lied. Wortlaute klangen durcheinander: „… morgen? …“ , „… Was ist eigentlich FDT? …“, „ … ist doch verrückt!“, „… und was ist mit meinem Urlaub? …“

„Entschuldigung!“ rief ein Arbeiter etwas lauter, an den Großen Xoork gewandt. „Ich will mich ja nicht zu weit aus dem Fenster lehnen, aber gibt es jemanden unter uns, der sich mit der neuen Apparatur auskennt? Es ist nämlich so, dass mir keine Abteilung einfällt, die das FDT-System schon im Einsatz hat.“
„Lieber Weisenax! Wir sind die Ersten, die das FDT 4120 für ihre Obhutwelt einsetzen dürfen. Ist das nicht wunderbar? Wir sind Vorreiter einer neuen, innovativen Art der Geschichtenerstellung. Damit schreiben wir Lesagen der Abteilung Erde Geschichte!“
„ Großer Xoork! In welchem Umfang stehen uns die Entwickler des FDT 4120 zur Seite? Schließlich haben wir keine Ahnung von dessen Funktionen.“
Der Große Xoork schaute mit allen 14 Augen, als hätte er den Sinn der Frage nicht recht verstanden. „Mein lieber Weisenax! Die Entwickler kosten ein stattliches Sümmchen an Quanten pro Zyklus. Wir wollen doch hübsch wirtschaftlich bleiben, oder? Das können wir genauso gut. Schließlich sind wir Experten! Uns stehen außerdem ein paar gelbe Haftzettelchen mit den Notizen der Entwickler zur Verfügung. Anhand dieser unschätzbaren Unterlagen, werden Sie in der Lage sein, das neue System im Handumdrehen zu beherrschen. – Nun schauen Sie nicht so betröppelt. Schließlich haben Sie das Vergnügen, ein völlig revolutionäres System bis ins letzte Detail zu studieren. Aaach! Manchmal beneide ich Sie alle! Wie gerne würde ich auch mit anpacken, aber dafür fehlt mir die Zeit“, seufzte der Große Xoork, der ja die schwere Last der Verantwortung für die Umstellung tragen musste und daher nie und nimmer noch zusätzlich praxisbezogene Aufgaben übernehmen konnte. Er musste sich leider auf Kommunikation und Organisation beschränken.

*
So begann also die großartige Einführung des neuen Fantasy Developer Tool 4120. Da es aber an den Menschen noch nicht erprobt war, kam es während der Testphase zu allerlei Wunderlichkeiten. Hollywood erlebte das große Jahr der goldenen Himbeeren. Da war nicht mehr von toten Dichtern die Rede, die in ihren Clubs grüne Tomaten zum Frühstück bei Tiffany aßen, sondern davon ‚Wie ich ein wiederverwertbares Plastik-Sahne-Röllchen verzehrte und wiederverwertete’. Brachte man noch Kunstwerken wie ‚Die Krone des Kork’, ‚Des Nonsens reinste Gedanken’ oder ‚Jenseits des stillen Gnus’ große Verwunderung entgegen, wurden bei anderen Werken, vor allem bei den unendlichen Fortsetzungsgeschichten, die ersten Unmutsbekundungen laut, und so mancher Kinobesucher lief beinahe Amok als ‚Der weiße Hai 30 – Jetzt mit blendend weißen Zähnen’ – anlief, besonders als die Protagonistin eine gewisse Frau Doktor (Who?) zur Best-Form auflief und den Hai am Ende mit einer (roten) Tomate tötete, die sie mittels einer klinisch getesteten Zahnbürste auf den verruchten Fisch abgefeuert hatte.
Auch bei den Printmedien lief einiges verkehrt. Aufgrund eines Defekts in der neuen Maschine schaltete sich der blumige Einfallsreichtum der Journalisten für Tagesblätter vollkommen ab, und sie schrieben nur noch die nüchterne Wahrheit (Gähn!), worauf manche große Tageszeitung natürlich Konkurs anmelden musste, weil sich von diesen langweiligen Schundblättern niemand mehr ein Bild machen wollte. Selbst der ehrbare Beruf des Schriftstellers begann darunter zu leiden, als denen nichts mehr einfiel und sie nur noch Branchenbücher auf den Markt warfen. Nur das lineare Fernsehen blieb zu diesem Zeitpunkt noch verschont. Während des Sommerlochs strahlte es ohnehin nur Wiederholungen aus.

Doch das waren nur kleine, zu vernachlässigende Unstimmigkeiten im neuen, großen System. Unsere Lesagen arbeiteten unermüdlich, um all diese Fehler zu beseitigen. Doch unter ihnen gab auch Querulanten, die mit der gewaltigen FDT-Revolution nichts anzufangen wussten. „Was schon Dante inspiriert hat, wird doch auch für die heutigen Einfallspinsel noch gut genug sein“, sagten vor allem die alten Weisen der C.I.S. (Central Indipendent Systemexperts) verstockt.
Einige gingen sogar soweit, die Arbeit zu sabotieren. Sie zerstörten empfindliche Elemente der Maschinerie, nur um sagen zu können: „Sehet! Was für eine nutzlose, neue Maschine!“
Der Große Xoork ließ sich davon aber nicht verdrießen. In diesem Fall musste er die Entwickler von 4120 doch Vorort bestellen. Sie galten als sehr sorgfältige Burschen, die nicht guten Gewissens einen einzelnen defekten Knopf wechseln wollten, ohne gleich für teuer Quanten die gesamte Einheit auszutauschen, die mit diesem Knopf betätigt wurde. Die Quanten, die die braven Ingenieure für das neue Element bekamen, spielten natürlich nur eine untergeordnete Rolle. Wichtig war allein das Wohlbefinden der empfindsamen Apparatur.
Leider waren Querulanten nicht die einzigen Saboteure. Manche sabotierten weniger bewusst:
„Wie steht’s Weisenax, wie steht’s?“ fragte der Große Xoork zu Beginn jedes Arbeitstages.
„Wir haben größere Probleme mit den Genreverteilern“, erklärte der Arbeiter heute. „Es verteilt sich einfach kein Genre dahin, wo es hinsoll. Gestern Abend hatten ein paar Menschenkinder Schreikrämpfe und Nervenzusammenbrüche bekommen, weil Kannibalen in ihre Bilderbücher gekrabbelt waren. Wir wollen das Problem lösen, indem wir die Informationsleitungen um einen Datenbus zu erweitern.“
„Datenbus? Papperlapapp! Lassen Sie mich mal die Konstruktionspläne sehen.“ Damit riss der Ehrwürdige dem verdutzten Weisenax die Pläne aus der Hand. „Aaaaaha!“ Der Große Xoork deutete auf einen Teil des Planes. „Dort müssen Sie einen zusätzlichen Verteiler anbringen, damit sich die Genreflut gleichmäßig verzweigen kann. Das liegt doch auf der Hand!“
„Aber …“
„Kein Aber! An die Arbeit, lieber Weisenax, an die Arbeit!“
Befohlen, getan! Doch der zusätzliche Verteiler sorgte für eine Überlastung an einer anderen Stelle, worauf hin diese mit einem lauten Knall explodierte – sehr zur Freude der anschließend gerufenen Entwickler. Da sprudeln die Quanten!
„Sind sie wahnsinnig, Weisenax?“ brüllte der Große Xoork, als er die Bescherung sah.
„Das war der zusätzliche Verteiler, Boss, den ich auf Ihre Anweisung hin angebracht habe.“
„Ein zusätzlicher Verteiler??“ Der Große Xoork glaube nicht richtig zu hören. „Warum hören Sie nicht richtig, wenn ich etwas sage? Einen weiteren Daaaaaatenbus hätten Sie verlegen sollen!“
„Aber …“
„Kein Aber! Haben Sie die Weisung diesmal auch wirklich verstanden?“…Ohne eine Antwort abzuwarten stapfte der Große Xoork davon. „Verlegt einen Verteiler, wo ein Datenbus hingehört. Ich frage mich, ob ohne mich überhaupt etwas vorwärts ginge“, schimpfte der arme Große Xoork. Er hatte es nicht leicht mit seinen Untergeben.

*
Auf der Erde war der Teufel los. Mittlerweile hatten sich die Testläufe der neuen Maschine auch auf das Fernsehen ausgewirkt. Neue Ideen für Shows aller Art blieben aus. Die harte Reality bestand darin, dass sogar bekümmernder Talk zur Comedy wurde. Vorbei war’s mit Let’s Dance und Superstars. Die Experten prognostizierten eine Zukunft so schwarz wie ein Raab – auch wenn der gar nicht mehr im Fernsehen auftauchte.

Gott saß wahrscheinlich der Schalk im Nacken, denn selbst der beliebte Günter löste sich in Jauch auf. Geblieben waren die Nachrichten, gespickt mit Politikern und! Politikerinnen, die darauf ganz besonders großen Wert legten. Beide Geschlechter dieser fabelhaften, gesetzgebenden Zunft wussten selbst jetzt noch phantastische Geschichten zu erzählen.
Zudem sah man im Fernsehen und im Internet Menschen, die sich aus irgendwelchen Gründen überhaupt nicht gerne hatten, und sich daher blutige Gefechte lieferten – und das Wort darüber ganz vergaßen. Da gingen überall die Menschen auf die Strassen und randalierten, denn sie wollten nicht ausschließlich Gewalt im Fernsehen sehen. Sie wollten so gerne mal wieder gute Geschichten hören, aber nicht von Politikern vorgetragen.
Daher wurden sie sehr wütend. Vielerorts brannten Bibliotheken, Kinos und Filmstudios. Die Masse schlug alles kurz und klein und vergriff sich am Eigentum sehr mächtiger Leut‘, die ganz, ganz viel Geld hatten. Diese Leut‘ ließen sich das nicht gefallen und schlugen auf ihre Weise fürchterlich zurück. Die anfänglichen Tumulte verwandelten sich in offene Aufstände, die sich unkontrolliert ausbreiteten. Jetzt ging es keineswegs mehr nur um einfache Unterhaltung oder schlechte Geschichten.

Andere Missstände wurden von den Wortführern der Aufstände angeprangert. Man wollte zum Beispiel plötzlich das Klima retten. Aber nicht jeder durfte dabei sein, sondern nur die, die gewisse Narrative erfüllten. Man wollte auch andere sehr gerechte Sachen, und jede Seite sah sich auf der des Guten. Da aber keine guten Filme mehr kamen, konnte man Gut und Böse nicht mehr unterscheiden.

Die Menschen begannen sich jetzt untereinander so richtig die Köpfe einzuhauen. Viele Regionen wurden zum Ausnahmegebiet erklärt. Der Erdball verdunkelte sich.

In der Zwischenzeit fragte man bei den Lesagen bedeutungsschwanger: „Wurden alle Interfaces integriert und getestet?“
„Interfaces? Was für Interfaces, Boss? Niemand hat etwas von Interfaces gesagt.“
„Gelber Haftzettel #734, mein lieber Weisenax! Also wirklich! Muss ich mich um alles kümmern? Wir können doch unmöglich mit 4120 in den Echtbetrieb gehen, ohne vorher die alten Geschichtsschablonen übernommen zu haben. Nun machen Sie aber! Wir wollen doch pünktlich in zwei Tagen fertig werden.“
„Wie soll ich so schnell alle Interfaces erstellen? Ich habe Tag und Nacht am Ideenkonverter gearbeitet. Außerdem rate ich dringend von einem Echtbetrieb zu diesem Zeitpunkt ab. Sehen Sie doch, was allein die Testläufe für Schaden unter den Menschen angerichtet haben.“
„Das kriegen wir schon in den Griff. Was wir jetzt brauchen ist Optimismus.“ Der Große Xoork klopfte Weisenax väterlich auf die Schultern. „Mut, Weisenax! Denken Sie an die vielen phantastischen Geschichten und an all die revolutionären Ideen. – Weisenax! Harry Potter darf nicht der letzte Geistesblitz der Menschen gewesen sein!“
„Mag schon sein! Ich halte es dennoch für riskant!“

Nun ist es ja altbekannt, dass den Dummen das Glück besonders hell aus dem Hintern scheint. Das ist auch bei unseren fleißigen Lesagen nicht anders. Obwohl die Umstellung völlig konfus von statten ging und das FDT 4120 viel zu früh eingesetzt wurde, glückte die Ablösung wie durch ein Wunder, worauf der Große Xoork vom Senat besonders geehrt wurde: Seinem Fachwissen, seiner Einsatzbereitschaft und seiner Entschlossenheit sei es zu verdanken, dass die Ablösung der alten Maschinen so gut geplant und ohne nennenswerte Zwischenfälle von statten gelaufen ist.

Und man war sich einig! Dies geschah nur zum Segen der gesamten Menschheit, die, wenn sie sich von den Folgen des letzten Weltkrieges erholt hatte, einem Zeitalter der wunderbaren Geschichten entgegen fiebern durfte.

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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