Michael Sagenhorn/ Januar 13, 2025/ Kino und Film/ 0Kommentare

Der letzte Anime, den ich vorgestellt habe war A Silent Voice, in dem es um Mobbing unter Schülern geht. Auch in Lonely Castle in the Mirror spielt dieses Thema eine wichtige Rolle, jedoch entführt uns die Geschichte diesmal in ein phantastisches Schloss. Hier finden sieben Ausgestoßene, die sich an diesem Ort versammeln, einen sicheren Hafen gegen Gängelungen.

Handlung

Das Mädchen Kokoro Anzai traut sich seit Längerem nicht mehr in die Schule. Sie wird von ihren Mitschülerinnen gemoppt und ausgegrenzt. Ihrer Mutter möchte sie sich nicht anvertrauen, stattdessen schiebt sie eine Krankheit vor. Nicht einmal Frau Kitajima vom Klassenzimmer des Herzens, einer Hilfs- und Förderschule für Kinder, gelingt es, dass Kokoro sich öffnet, jedoch ist sie die einzige Lehrerin, die das verschreckte Mädchen ehrlich unterstützen will.

Als Kokoro wieder einmal alleine Zuhause ist, statt in der Schule, beginnt ihr Standspiegel geheimnisvoll zu leuchten. Kokoro möchte dieses Phänomen näher untersuchen, da wird sie unvermittelt in den Spiegel hineingezogen. Gleich darauf findet sie sich am Eingang zu einem einsamen Schloss auf einer hohen, steilklippigen Felseninsel wieder, die gerade mal so groß ist, dass sie das Schloss aufnehmen kann. Um die Insel herum ist nichts weiter als das ruhig wogende Meer.

Nach dem ersten Schreck wird sie von einem jungen Mädchen angesprochen, die ihr Gesicht hinter einer Wolfsmaske verbirgt. Das Mädchen stellt sich als Wolfskönigin vor. Sie geleitet Kokoro zu weiteren Teenagern, die bereits auf sie warten. Nun da sie komplett sind kann die Wolfskönigin den Grund ihres Hierseins auch Kokoro erzählen: In dem Schloss befindet sich ein geheimes Zimmer, das Wunschzimmer. Wer von den sieben Schülern den Schlüssel zu diesem Zimmer findet und dort hineingelangt, dem wird dessen sehnlichster Wunsch gewährt, egal was es sei. Die Schüler haben bis 30. März des nächsten Jahres Zeit den Schlüssel zu finden. Gelingt es ihnen nicht, ist der Wunsch verloren und ihnen bleibt nichts weiter als die Erinnerung an die gemeinsame Zeit, die sie hier verbracht haben.

Gelingt es aber einen von ihnen einen Wunsch zu äußern, werden sie alle die Erinnerungen verlieren, an das Schloss und an jene mit denen sie die Zeit darin geteilt haben.
Es müssen auch Regeln eingehalten werden. Die Wichtigste besagt, dass das Schloss nur von 9:00 Uhr bis 17:00 Uhr japanischer Zeit offen steht. Verweilt einer von ihnen nach 17:00 Uhr noch im Schloss, werden er und all jene die vorher mit ihm im Schloss gewesen sind, von einem Wolf verschlungen…

Der Anime und auch das Manga basieren auf dem gleichnamigen, im Mai 2017 erschienenen Roman von Mizuki Tsujimuram. Zwar habe ich mir den Roman bereits zugelegt, kenne aber bisher nur den Film und bewerte auch nur diesen – auch auf seine erzählerischen Schwächen weise ich hin, die im Roman und Manga nicht zwangsläufig ebenfalls vorkommen müssen, da beide Medien mehr Raum für die Geschichte zur Verfügung haben.

Eine Gruppe Außenseiter

Den Anime erleben wir hauptsächlich aus Kokoros Blickwinkel, doch auch andere Charaktere sind ganz entscheidend für den Verlauf der Geschichte. Neben Kokoro gibt es auch Aki, Rion, Fūka, Masamune, Subaru, und Ureshino. Nach und nach entdecken sie markante Gemeinsamkeiten. Sie alle – bis auf einen – haben mit harten Schicksalen, meist Mobbing, zu kämpfen, sie alle – bis auf einen – gehen auf die gleiche Mittelschule in Tokio.

Der aufmerksame Zuseher wird schon bald darauf schließen, dass dieser eine Schüler, Rion, eine ganz besondere Stellung einnimmt, ebenso die Wolfskönigin, die junge Gastgeberin, die für ihr Alter ungewöhnlich wortgewandt ist.

Auch hinter Aki scheint mehr als nur ein trauriges Schicksal zu stecken. Und der Game-begeisterte Masamune scheint einen besonderen Einfluss auf den technikaffinen Subaru zu haben, der durch Masamune Videospiele für sich entdeckt. Zudem kennen fast alle Schüler Frau Kitajima, jene Lehrerin vom Klassenzimmer des Herzens, auf die Kokoro vor kurzem getroffen ist.

Der scheue Ureshino nimmt am Anfang in der Gruppe eine Sonderrolle ein, da er selbst von ihnen die es eigentlich wissen müssten, ab und an gehänselt wird, weil er sich in Fūka verliebt hat, und sich das verzweifelt anmerken lässt. Erst als er sich überwindet und darüber schimpft, dass doch keiner von ihnen aufgrund ihrer Angst zur Schule geht (ausgenommen Rion), ändert sich das Verhalten der Gruppe ihm gegenüber.

Das Schloss der Illusionen

Das Kaminzimmer in das die Wolfskönigin die Gruppe am Anfang führt, strahlt eine warme Behaglichkeit aus. Vier bequeme rote Sofas vor dem brennenden Kamin warten darauf, dass müde Seelen Platz auf ihnen nehmen.
Das Schloss kennt auch die Passionen der Besucher. Jeder von ihnen hat ein eigenes, nach persönlichen Vorlieben eingerichtetes Zimmer. In Kokoros Zimmer zum Beispiel warten zahlreiche Märchenbücher, Fūkas Zimmer hingegen wird von einem großen Flügel in der Mitte dominiert, weil sie einmal leidenschaftlich gern Klavier gespielt hat.

Auch die Küche in der Kokoro, Aki und Fūka gerne Erdbeertee trinken ist hell und sauber und gibt über weite Fenster einen Panoramablick auf den grünen Innenhof frei.
Doch das gesamte Schloss ist lediglich Kulisse. Kleine Hinweise verraten schon früh, dass wir hier nur einen künstlich erstellten Schauplatz betreten. Im Kaminzimmer und in Kokoros Zimmer befinden sich verwaiste Vogelkäfige ohne Nutzen. Auch der Tee den die Mädchen trinken, muss von Aki mitgebracht werden, da die Wasserhähne nicht an eine Wasserversorgung angeschlossen sind. Strom gib es selbstredend auch nicht.

Die Kulisse geht auch über das Schloss hinaus. Es gibt vereinzelte Türme, die aufgrund der Steilklippen unmöglich zu erreichen sind. Das Wetter ist immer sonnig, das Meer stets ruhig, obwohl die Handlung über mehrere Monate geht.

Es ist ein Rückzugsort von der wirklichen Welt, wie viele von uns ihn vielleicht in der Fantasie ebenfalls haben, und trotzdem ist die Sicherheit trügerisch. Das Schloss beherbergt jenen Wolf, der die Besucher nach 17:00 Uhr fressen würde. So ist auch die Sicherheit nur Illusion, ähnlich wie ein Drogenrauch, der den Konsumenten vorgaukelt, alles wäre wunderbar, obwohl er nur vor der Wirklichkeit flieht.
Die Suche nach den einen Schlüssel für das Wunschzimmer ist demnach nicht nur ein Weg seinen Wunsch zu erfüllen. Die Suche ist ein Streben, das die Teenager vorantreiben soll. Der Schlüssel ist das Ziel, das es zu erreichen gilt, wie auch wir uns Ziele setzen sollten, nicht nur um dem Leben Sinn zu verleihen, sondern auch um Geist und Seele gesund zu halten. Am Ende ist es nicht der Wunsch selbst, der Heilung verspricht, sondern der Weg der zum Erreichen dieses Wunsches führt.

Das einsame Schloss, das nur durch einen Spiegel zu betreten ist, ist der Spiegel er Einsamkeit, die die Teenager jeden Tag empfinden.
Mit wem ist es möglich über Sorgen zu sprechen? Was ist die Wurzel ihrer Einsamkeit? Im Schoß des Schlosses finden die Schüler die Ruhe darüber nachzudenken.
Und sie können sich gegenseitig stützen und helfen. Aus den Konkurrenten um den Schlüssel werden Verbündete, und die Entscheidung sich den sehnlichsten Wunsch zu erfüllen wandelt sich zur Entscheidung diesen besonderen zwischenmenschlichen Bund zu bewahren, denn wenn der Wunsch erst einmal gesprochen ist, werden alle Erlebnisse die mit dem Schloss zusammenhängen aus den Gedanken verschwinden.

Urängste und Märchenmotive

Dieses Vergessen stellt eine Urangst des Menschen dar. Das Vergessen von guten Freunden ist eine Tragödie. Das wusste bereits Stephen King. Dessen Protagonisten im Roman ES bezahlten einen teuren Preis für den Sieg gegen das Monster. Sie alle vergaßen einander (ja, auch hier gibt es eine Ausnahme). Wie entsetzlich dieses Vergessen sein kann zeigt das wachsweiche Wohlfühl-Ende des neuen zweiteiligen Kinofilms von 2017, bzw. 2019. Hier dürfen Kings Figuren ihre Erinnerungen behalten. Womöglich haben zu viele Leser das Ende des Buches beklagt, fanden das Vergessen vielleicht sogar schrecklicher als den Tod?

Anscheinend haben japanische Geschichtenschreiber einen Hang zu Märchen der Gebrüder Grimm. Immer wieder finde ich in ihren phantastischen Geschichten das Motiv vom großen, bösen Wolf, und vor allem Rotkäppchen hat es den Japanern anscheinend angetan. So auch in Lonely Castle in the Mirror. Doch neben Rotkäppchen führt hier ein zweites Märchen zu einem Schlüsselerlebnis: Der Wolf und die sieben Geißlein.

Erzählerische Schwächen

Der ansonsten wirkungsstarke Film, der mit einer starken Story und sympathischen Charakteren zu überzeugen weiß, hat auch erzählerische Schwächen, die hoffentlich im Roman nicht vorkommen. Die Handlungsstränge die in der realen Welt spielen lassen keine Fragen offen, aber einige meiner Fragen zum Schloss klärt der Film nur unzureichend.

Warum wurden ausgerechnet diese Schüler ausgewählt? Sicher haben auch andere Schüler der entsprechenden Mittelschule ähnliche Probleme. Nur bei einem Schüler wird die Auswahl, spätestens gegen Ende, absolut klar.

Warum die Sieben bei Erfüllung des Wunsches alles vergessen müssen, wird ebenfalls nicht erklärt. Man kann höchstens darauf schließen (Das Opfer das man erbringen muss, für die Erfüllung eines sehnlichen Wunsches).

Wer ist der Schöpfer des Schlosses, mit dem die Wolfskönigin zusammenarbeitet? Und welches Motiv hat dieser Schöpfer? Aus dem Film geht hervor, dass nicht die Wolfkönigin die Regeln aufgestellt hat. Wer hat die Regeln also entworfen, und welchen Sinn haben sie, besonders weil sie eine Gefahr für Leib und Leben darstellen?

Es gibt auch noch andere Fragen, doch die hier zu stellen, würde zu viel von der Geschichte verraten.

Fazit

Nichtsdestotrotz erleben wir eine intelligente, anrührende Geschichte mit großen Gefühlen.
Es dauert eine Weile bis wir erkennen können worauf der Film hinaus möchte, und was der Sinn des ganzen Spieles ist. Theorien werden von den Schülern erstellt und wieder verworfen, nach und nach setzen sie das Puzzle zusammen, und wir mit ihnen, je mehr wir sie kennenlernen dürfen, bis alles in einem packenden Finale ans Licht kommt.

Obwohl der Film von 2022 ist, kam er erst im Juni 2024 in die deutschen Kinos. Für mich gehört dieser Film zu den Kino-Highlights des vergangenen Jahres.

Lonely Castle in the Mirror ist auf ist auf Blu-Ray und DVD erhältlich.

Bildquelle: © Plaion Pictures

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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