Michael Sagenhorn/ September 7, 2023/ Kino und Film/ 0Kommentare

2022 / FSK 16 / 89 Minuten

Der Phantastische Film kann mehr bieten, als seichte Blockbuster-Unterhaltung. Durch Allegorien, die über die Grenzen der uns bekannten Welt hinausgehen, ist es ihm möglich, uns tiefgehende Botschaften anschaulich und verständlich näher zu bringen.

Werke aus Skandinavien fallen mir dabei immer wieder positiv auf. Gut! Das Entstehungsland von dem hier näher vorgestellten Film ist zwar Finnland, bei dem genau genommen nur der Nordwesten zu Skandinavien gehört, die Finnen mögen es mir aber bitte nachsehen, wenn ich ihre Produktionen trotzdem meiner Rubrik Phantastischer Film aus Skandinavien zuordne.
Vor einer Weile habe ich bereits den ungewöhnlichen schwedischen Vampirfilm So finster die Nacht vorgestellt. Mit Hatching und The Innocents muss ich zwei weiteren phantastischen Filmen meine Anerkennung ausdrücken. Eigentlich wollte ich die beiden Filme gemeinsam in einem Artikel besprechen, weil sie neben der geografischen Gemeinsamkeit weitere markante Parallelen aufweisen:


In beiden Filmen sind Kinder die Hauptfiguren. Beide Filme zeigen stellenweise schwer erträgliche Misshandlungen von Tieren. Wer solche Szenen lieber meiden möchte, sollte sich die Filme, besonders The Innocents besser nicht ansehen. Zudem erzählen die Filme ihre Geschichten auf eine sehr spezielle Art. Daher sind sie nicht unbedingt Spiegelbild unseres Mainstreamgeschmacks.
Letztendlich habe ich mich aber gegen eine gemeinsame Rezension entschieden, weil ich zur Ansicht gelangt bin, dass jeder der beiden Filme eine eigene Betrachtung verdient hat. Beginnen möchte ich mit Hatching. Es kann zu leichten Spoilern kommen.

Handlung

Die zwölfjährige Tinja (Siiri Solalinna) lebt mit ihrer Familie in einer idyllischen, von Wäldern umgebenen Siedlung. Die Tage des Mädchens werden bestimmt, von einem strikten Zeitplan, den ihre Mutter (Sophia Heikkilä) für sie erstellt hat. Treffen mit Freundinnen oder einfach mal entspannt in den Tag hineinleben, sieht dieser Plan nicht vor. Tinjas Mutter, eine ehemalige Eiskunstläuferin, hat es sich zum Ziel gesetzt, aus Tinja eine erfolgreiche Turnerin zu formen. Oberstes Gebot ist daher hartes Training, das Tinja über sich ergehen lässt, um die Anerkennung ihrer Mutter zu erlangen. Tinja widerspricht ihrer Mutter nie. Das Training stellt sie ebenfalls nicht in Frage, obwohl sie selbst merkt, dass ihr das Talent zu einer Spitzenturnerin fehlt. Was ihre Klassenkameradinnen spielend zu beherrschen scheinen, muss sich Tinja erst mühevoll antrainieren. Ihre Mutter glücklich zu machen, eine ‚gute Tochter‘ zu sein, scheint ihr einziger Lebensinhalt.

Die Mutter zeigt überdies ihre Familie als perfekte und glückliche Gemeinschaft im Internet. Der Vater, der Sohn und vor allem die Tochter werden tagtäglich auf ihrem Video-Blog Wonderful Everyday Life präsentiert. Die Anerkennung und Aufmerksamkeit ihrer Zuschauer ist der Familienbloggerin äußerst wichtig.

Dieses von ihr akkurat in Szene gesetzte Idyll wird eines Tages von einem kleinen Raben gestört, der unvermutet in das Haus flattert und im Wohnzimmer Chaos und Zerstörung anrichtet, bis Tinja den Vogel endlich einfangen kann.
Ihre Mutter verlangt die Herausgabe des Vogels. Das Mädchen gehorcht, und die Mutter bricht dem Raben das Genick. Tinja muss den Vogel in der Mülltonne entsorgen. Ab hier beginnt die Geschichte eine phantastische und stellenweise unheimliche Wendung zu vollziehen…

Die Kreatur aus dem Ei

Im Wald findet Tinja ein Ei. Sie kommt zu dem Schluss, dass es das verwaiste Ei des getöteten Raben sein muss. Daher beschließt das Mädchen dieses Ei heimlich auszubrüten.
Aber was für ein Wesen wächst hier heran? Das anfänglich kleine, unauffällige Ei wächst auffallend schnell, und ist am Ende so groß, dass Tinja Mühe hat, es zu verstecken. Doch spätestens nachdem das Wesen geschlüpft ist, wird Tinja klar, dass diese missgestaltete Vogelkreatur kein normaler Rabe sein kann. Trotzdem behält Tinja die Kreatur und versucht sie aufzuziehen. Tinja gibt dem Wesen den Namen Alli.

Tinja und Alli scheinen auf eine besondere Art miteinander verbunden zu sein. Daher wundern wir uns auch nicht, wenn die Kreatur Tinjas Erscheinungsbild immer mehr ähnelt. Aus dem grauenvollen Raben-Mensch-Hybriden wird nach und nach ein blondes Mädchen.

Aber im Gegensatz zu der sanften, zurückhaltenden Tinja, ist Alli wild und wird schnell wütend auf alle, von denen sie annimmt, dass sie Tinja unglücklich machen. Hier sind Tragödien vorprogrammiert.

Allis Ursprung bleibt im Dunkeln. Wir werden dazu eingeladen, unsere eigene Fantasie zu bemühen, wenn es um die Wurzeln dieser Kreatur geht. Daher blieb der Film auch dann noch bei mir haften, nachdem der Abspann bereits gelaufen war, ganz im Gegensatz zu vielen US-amerikanischen Produktionen, deren vorgekaute Storys nur noch langweilig vor sich hindudeldn, weil sie ihren eigenen Mythos zu Tode geritten haben.

Die Vorzeigefamilie

Die Mutter träumt von einer heilen Welt, von ihrer Familie, mit der sie glänzen kann. Einmal im Mittelpunkt stehen, sich abheben von den anderen banalen Menschen. Ein Wonderful Everyday Life, ein „wundervoller Alltag“ soll es sein, mit einer strahlenden Bilderbuchfamilie, in der alle nur lächeln und alle glücklich und erfolgreich sind.

Denn sie will ja sonst nicht so viel im Leben. Ihren Traum von einer Karriere als Eiskunstläuferin hat sie aufgegeben. Nun soll es wenigstens der Familienblog sein, auf dem ihre perfekt inszenierten Filme laufen, ganz im Sinne des heutigen Geistes von Social-Media und Co.

Familienglück will sie haben, doch ist die Mutter nicht bereit, wirklich Opfer dafür zu bringen. Das sollen andere tun. An erster Stelle Tinja. Nun soll aus Tinja werden, was der Mutter versagt geblieben ist: Eine erfolgreiche Sportlerin, obwohl Tinja ganz offensichtlich keine große Lust dazu hat. Ihr eigenes Leben muss hintenanstehen.

Und die männlichen Familienmitglieder? Nur Statisten. Egal, ob die Kamera läuft oder nicht. Mit ihrem Mann spricht Tinjas Mutter kaum. Auch ihr Sohn erregt kaum ihre Aufmerksamkeit. Will dieser einmal mütterliche Nähe spüren und sie umarmen, wird er weggestoßen. Uns wird diese Distanz der Figuren zueinander auch noch dadurch verdeutlicht, dass wir außer Tinjas Namen keine anderen Namen erfahren. Mutter, Vater und Sohn könnten ‚jeder‘ sein.

Doch hinter der Fassade der perfekten Jedermann-Familie schlummert eine dunkle Seite.

Die Mutter versucht auf Kosten ihrer Tochter ihr Glück zu finden. Dabei überträgt sie die Verantwortung für ihr eigenes Wohlbefinden auf die emotional völlig überforderte Tochter.
Zudem hat die Mutter einen Liebhaber, bei dem sie das ein oder andere Wochenende verbringt. Außer Tinja ahnt davon niemand etwas. Die darf sogar einmal mitfahren und Tero den Liebhaber näher kennenlernen. Es stellt sich heraus, dass Tero kein einfacher Lover ist, sondern ein einfühlsamer, sympathischer Mensch, und es scheint, dass er als einziger wirklich Anteil an Tinjas Sorgen nimmt.

Trotz ihrer Selbstsucht und Oberflächlichkeit ist die Mutter kein böser Mensch, sondern lediglich das bedauernswerte Produkt ihrer Zeit. Im Grunde möchte sie das, was wir uns alle irgendwo wünschen: Erfolg, Respekt, Zuneigung. Gerade diese Werte entstehen aber durch eine tiefere Bindung mit realen Menschen. Diese Werte können nicht in Klicks oder Follower-Zahlen gemessen werden. Statt in die Tiefe zu gehen, und sich auf richtige Bindungen einzulassen, bleibt die Mutter lieber bei Oberflächlichkeiten und sucht Sympathie bei Fremden Menschen.
Anscheinend hat die Mutter irgendwann aufgegeben, reifer zu werden, während Tinja gerade dabei ist, den Prozess des Erwachsenwerdens zu durchlaufen. Genau das ist eigentliche Thema der Geschichte. Während Tinja das noch von den Eltern abhängige Kind verkörpert, symbolisiert ihr Gegenstück Alli den heranreifenden Teenager.

Fazit

Im Regie-Debüt von Hanna Bergholm treffen wir gut ausgearbeitete, lebensnahe Charaktere, hervorragen performt, von ihren jeweiligen Schauspielern. Die Geschichte muss sich keiner Klischees oder Stereotypen bedienen, um ihre Botschaft zu transportieren. Der Film entwickelt so, trotz der Phantastik-Elemente eine glaubwürdige Realitätsnähe. Die Hürden, die es in dem Film zu überwinden gilt, sind uns alle bekannt. Sie sind ein Sinnbild des Erwachsenwerdens und der Loslösung vom Elternhaus.

Gerade die letzte Szene des Films kann man so deuten, dass die Tochter auf einen guten Weg ist, diesen Loslösungsprozess einzuleiten. Hatching ist ein Drama, das ich besonders Phantastik-Fans empfehlen kann, die Filme nicht immer in bestimmte Schubladen stecken möchten.

Hatching ist auf Amazon Prime zu sehen oder auf Blu-Ray/DVD erhältlich.

Bildquelle: © capelight pictures

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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