Michael Sagenhorn/ September 23, 2023/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genre: Science-Fiction, Horror – Geeignet ab 16 Jahren

© Michael Sagenhorn 2023

Ein Nachtfaltermännchen der Gattung Kardeneule schwirrte einsam durch einen urbanen Wald, bestehend aus stählernen oder gläsernen Wolkenkratzern. Viele waren zu so später Stunde hell und bunt erleuchtet. Die kleine Kardeneule versuchte sich verwirrt am Lichtermeer zu orientieren, denn seit über zwei Jahrhunderten wurde der Mond, sein natürlicher Wegweiser durch die Nacht, von einem fahl leuchtenden Schleier verborgen, der sich über den gesamten Himmel legte. Dieser Schleier taucht die grenzenlos scheinende Stadt selbst bei Tage in eine grüne Dämmerung. Er ist das sichtbare Zeugnis eines Strahlenschirms der die Menschen vor der schädlichen Wirkung der Sonne schützt.

Der Nachtfalter sank in eine Straßenschlucht und flatterte an einem Zeitungsautomaten vorbei, dessen Tagesblatt mit der Schlagzeile: ‚Katastrophe La Palma: Inselflanke jetzt doch kurz vor dem Abrutsch?’ auf den 23. September 2273 datiert war. Sein Ziel lag direkt vor ihm: Eine an einem Hochhaus befestigte, elektronische Reklametafel, die in hellen, grellen Farben für eine Cola-Marke warb, ragte dreißig Meter in die Höhe. Der Falter verlor sich darin. Er kam ihr zu nahe und wurde augenblicklich gerillt. Das tote Insekt stürzte hinab und verschwand hinter einer vergitterten Abflussöffnung auf dem Gehweg. Es fiel weiter in ein unterirdisches Reich und beendete seinen Sturz auf einem trockenen Seitenkanal des Abwassersystems. Kurz darauf wurde es unter einem schweren Stiefel zerquetscht.

Dessen Besitzer hastete durch die Kanalisation. In seiner rechten Hand trug er eine schussbereite 33er Steal Automatik, die neueste Handfeuerwaffe, die erst vor kurzem an alle Jäger ausgeteilt worden war. Der Mann wusste, dass er seine Beute nicht damit erlegen konnte, aber zumindest würde er sie so lange aufhalten, bis er bereit war sein geweihtes Schwert in ihr Herz zu stoßen.
„Mist! Hab‘ ihn verloren“, fluchte er in sein Headset. „Desaria, hörst du mich? Er bewegt sich in deine Richtung.“
„Verstanden, Arvil“, kam es aus dem Hörer. „Ich erwarte ihn Ende Abschnitt C. Unternimm wenigstens den Versuch, das ganze Schlamassel nicht mir allein zu überlassen.“
„Schon unterwegs!“ Arvil ermittelte geschwind die eigene Position, anhand seines Holoplans vom Kanalnetz. Gleich darauf folgte er der Spur seiner Beute durch die modrigen Ziegelgänge.

Indessen verharrte eine feingliedrige Frau mit auffallend rot gefärbten, nach hinten gebundenen Haaren am seitlichen Sims einer breiten Kanalröhre, in der ein wild ablaufender Fluss allerlei Unrat mit sich trug. Ihre spitze Nase witterte plötzlich einen neuen Duft, durch den Gestank von Fäkalien, Industrieöl und Speiseresten. Die Gefahr näherte sich rasch. Desaria richtete mit einer Hand die Steal Automatik aus, mit der anderen zog sie ihre Klinge, deren geweihtes Metall sogar für sie eine Gefahr darstellte, sollte sie damit in Berührung kommen.

Der Angriff erfolgte so rasch, dass sie trotz ihrer enorm schnellen Reflexe kaum in der Lage war, noch rechtzeitig auszuweichen. Die Kreatur schoss von der Decke hernieder. Mit einem schrillen Schrei ließ sich Desaria nach hinten fallen und spürte indes den Luftzug eines dicht vorbei rauschenden Körpers. In einem Reflex riss sie die Waffe herum. Desaria gab drei Schüsse ab und sprang dabei auf die Beine.

Doch das Ungetüm war den Kugeln elegant ausgewichen. Es trieb die Klauen ihrer Finger und Zehen tief in den Ziegel, damit es gleich einer Fliege an der Wand kleben blieb. Die Frau erkannte die graublaue Haut des Monsters. Ein paar dreckige Stofffetzen zeugten davon, dass die Kreatur einmal gesittet genug gewesen sein musste, Kleidung zu tragen. Einstmals war die Kreatur in der Lage sich verständlich auszudrücken, vielleicht gar gebildet und dazu fähig jedermann mit glänzenden Blicken und einem entwaffnenden Lächeln zu betören. Doch nun klafften zwei schwarze, tote Perlen im Schädel des Wesens, halb verdeckt von verfilzten Haarsträhnen. Statt der Augen glänzten nun triefende Hauer, die sich aus rissigen Lippen des breiten Maules schälten.

Desaria feuerte erneut. Und wieder verfehlte sie das Monster, das nun mit einem gierigen Grollen und weit aufgerissenem Maul auf sie zuflog. Ein Sprung – noch ein Sprung. Desaria versuchte Ruhe zu bewahren, denn sie wusste: Im Gegensatz zu deren herkömmlichen Vertretern würde diese Kreatur sich nicht allein mit Blut begnügen, sondern sich an Desaria satt fressen solange noch ein Funken Leben in ihr steckte. Ein letzter Satz, das Monster hatte Desaria erreicht, doch bevor sich die scharfen Klauen in sie bohren konnten, wirbelte sie herum, trat einen Schritt zur Seite und stach zu. Die Klinge traf das Monster mitten ins Herz. Es fand nicht mal mehr Zeit eine überraschte Klage hinauszurufen, und starb bevor es zu Boden fiel.
Hinter ihr erklangen Laufschritte. „Da bist du ja schon“, spottete sie ohne sich umzudrehen.
„Sorry“, keuchte Arvil. „Gegen diese verdammten Gänge ist ein Labyrinth der reinste Gerade-Weg-ins-Ziel“.
Jetzt wandte sich Desaria Arvil zu. „Deswegen hält der Zirkel es für weise, uns mit Holokarten auszurüsten!“
„Nur keinen Hohn, Fräulein! Ich liege immer noch drei Biester in Führung!“
„Wenn du weiter so langsam bist, wird sich das bald ändern!“
Beide betrachteten die Überreste des Monsters. Schwarze Flüssigkeit sickerte aus der Wunde, doch wenige Minuten nach dem Tod begann die Veränderung. Langsam fiel der Leib in sich zusammen, trocknete aus und wehte in Form von Asche und Staub davon.
„Komm!“ sagte Arvil „Für heute sind wir fertig. Kehren wir zum Neumanntower zurück.“

***

Der letzte Stock des Neumanntowers, der Gigant besaß vierundachtzig Etagen, bestand zum größten Teil aus einer Terrasse, die um das gesamte Gebäude herumführte. So erhielt man einen atemberaubenden Rundblick auf die Stadt, und bei wolkenlosem Himmel konnte man selbst nachts die Berge erkennen, da der Schirm zu jeder Zeit sein schwaches Licht zur Erde warf. Aus diesem Grund verweilte Desaria gerne hier. Nach getaner Arbeit entspannte sie sich, indem sie dicht am Abgrund auf dem Terrassengeländer hockend, die glühenden Bauten betrachtete und dabei ihren Gedanken nachhing.
Desarias Vorliebe für diesen Platz kam Arvil sehr entgegen, denn so musste er seine Partnerin nie lange suchen. Er fand sie stets auf dem westlichen Geländer. Arvil gesellte sich daneben und beobachtete schweigend, wie automatisch gesteuerte Fahrzeuge über breite Straßen flitzten und dabei lange Lichtspuren hinter sich herzogen.
„Ich habe einen Wunsch“, flüsterte Desaria während sie verträumt zum Himmel schaute.
Arvil wandte sich ihr zu. „Einen Wunsch?“
„Nur einmal in meinem Leben möchte ich den Sonnenaufgang sehen.“
„Du bist und bleibst romantisch“, entgegnete Arvil trocken. „Vor langer Zeit habe ihn einmal gesehen. Das Erlebnis wird überschätzt, Schneckchen. Auch damals schon, als die Sonne noch rot war, statt grün.“
„Ich würde es dennoch gerne sehen!“ Desarias Blicke schweiften nach wie vor über das Firmament. „Und nenn‘ mich nicht Schneckchen!“
„Ok! – Aber so haben wir beide unsere Wünsche. Du würdest gern den Sonnenaufgang sehen, und ich würde dich gerne einmal Lächeln sehen. Seit ich dich kenne schirmst du dich hinter einer Barriere der Teilnahmslosigkeit ab.“
„Vor langer Zeit habe ich einmal gelächelt. Dieses Ereignis wurde maßlos überschätzt. Auch damals schon, als die Sonne noch rot war, statt grün.“

„Deinen Sarkasmus hast du jedenfalls nicht verloren. Wir kennen uns schon eine Ewigkeit! Willst du mir nicht erzählen, wie du dein Lächeln verloren hast?“
„Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich habe lediglich begonnen zu hassen, was ich bin.“
„Wärst du lieber ein Mensch? Sieh sie dir an! Sie sind schwach und sie leben nicht lang. Und jetzt fürchten sie zudem die Sonne, genauso wie wir.“ Arvil grinste bei diesem Gedanken. „Was für eine Ironie. Ohne dem Schild würden sie über kurz oder lang zugrunde gehen. Dabei war am Anfang dieses Jahrtausends die Ozonschicht schon dabei, sich zu regenerieren. Ich kann mich an diese Zeit noch gut erinnern. Im Jahr 2060, in dem Jahr also in dem der Schild aktiviert wurde, hätte sie eigentlich wieder stabile Werte aufweisen müssen. Stattdessen haben die Menschen in ihrem Forschungseifer neue Gase freigesetzt, die die Ozonschicht endgültig zerstörten.“
„Du bist stolz auf unsere Art, nicht wahr? Als wären wir besser, als die Menschen, oder die Schwarzblutbrut, die wir Nacht für Nacht jagen.“
„Sind wir das nicht?“ blaffte Arvil langsam genervt. „Was ist nur los mit dir? Ich erlege Menschen, weil ich Nahrung brauche. Abgesehen davon komme ich gut mit ihnen aus. Und im Gegensatz zum Schwarzblut töten wir keine Vertreter von unserer Art. – Verdammt, Desaria! Wir sind zivilisiert!“
Desaria sah ihn in die Augen. „Ich kann dich sehr gut leiden, Arvil. Daher erzähle ich es dir doch. Ich erzähle dir von Gabriel.“
„Gabriel?“
„Gabriel war ein Mensch, den ich 1536 in einer Bar in London kennengelernt habe. Wir sind uns schnell nähergekommen, und ich habe ihm mein Herz geschenkt“.
„Aber Beziehungen zwischen uns und Menschen waren damals noch nicht gestattet“, warf Arvil ein.
Desaria schluckte beklommen. „Das war uns egal! Es war mir egal! Meine Güte! Gabriel kannte ja die Strafen nicht. Nicht einmal ich kannte sie. Wir waren so verliebt und glücklich, und alles drehte sich nur um uns.
Aber natürlich sind wir irgendwann aufgeflogen. Sechs Monate dauerte unsere Zeit. Dann nahm sich Elizabeth, meine ältere Schwester, unserer Beziehung an. Sie war die Herrin meines Clans“.
„Du hast eine Schwester?“
„Lass mich von einem ganz bestimmten Tag berichten. Lass mich von dem Tag berichten, als ich jene verlor, die ich über alles liebte“…

***

„…bestimme über mich selbst, ich bestimme über mich selbst, ich bestimme…“ Das Wesen, das diese Worte im Sprechgesang ständig vor sich hin krächzte, konnte man kaum noch ein zivilisiertes, vernunftbegabtes Wesen nennen. Ausgemergelt und dürr, mit aufgequollenen, roten Augen stachen aus dunkeln Rändern neben einer fahlen Haut hervor. Struppiges Haar schien am dreckigen Boden der kalten Kerkerzelle festzukleben, in der sie seit fünf Tagen eingesperrt war. Oder sind es bereits sieben Tage? Oder mehr?
Sie bekam kaum noch einen vernünftigen Gedanken aus ihrem schmerzend pochendenden Schädel. Ihr Magen hatte sich vor Hunger verkrampft.

Ein Wimmern! Ist sie das? Ja, sie ist es. Diese schreckliche Qual wäre trotz allem auszuhalten gewesen, wenn dieser verlockend süße Duft nicht zu ihr herüberwehen würde. Dieser köstliche Duft, der die Erlösung ihres Leidens versprach, der das Ende ihres verzehrenden Hungers verkündete.
Und doch durfte sie diesem Drang nicht nachgeben. Sie ist kein Tier, kein Monstrum, sondern Herrin über sich selbst. Die Quelle dieses qualvoll köstlichen Duftes hat einen Namen, ein Leben, eine Persönlichkeit. Ja, auch jede andere Beute, die sie bisher erlegt hatte, konnte das aufweisen. Aber diesen Menschen – diesen einen liebte sie mehr als ihr Leben. Durch einen roten Schleier blickte sie zu Gabriel hinüber. Sie erkannte seinen verzweifelten Blick. Er litt weil sie litt, aber im Gegensatz zu ihr, war er mit einem Eisenring um den Hals an die grobe Wand gekettet. Neben Gabriel lag verschimmeltes Brot in einer Schale. Im Gegensatz zu ihr servierte man ihm Nahrung. Doch als Gabriel sah, wie sehr sie unter ihrem Hunger litt, hatte auch er beschlossen nichts mehr zu essen.

Gabriel und sie waren nicht die einzigen in der Zelle. Jeden Tag kam Elizabeth sie besuchen, um sie mit ihren Worten noch mehr zu bestrafen. Elizabeth stand dicht neben ihr und blickte ohne Emotionen auf sie herab.
„Ich bewundere dich, Desaria“, hauchte sie mit einer zarten, leisen Stimme. „Wirklich! Soviel Willen. Diese Entschlossenheit. Aber du weißt, wie sinnlos deine Gegenwehr ist“.
„Bitte“, krächzte Desaria „Töte uns, wenn du willst. Aber lass uns zumindest unsere Würde“.
Elizabeth kniete sich zu Desiria hin und blickte ihr in die Augen. „Aber ich will dich nicht töten, kleine Schwester“. Elizabeth seufzte. „Du bist alles, was ich noch habe, seit die Menschen unsere Eltern getötet haben“.
„Quälst du uns deshalb so sehr? Weil du die Menschen so abgrundtief hasst?“
„Nein, du Dummkopf. Ich hasse die Menschen nicht mehr oder weniger als du. Aber ich will, dass du wieder zu uns zurückkommst. Ich will, dass du dich wieder daran erinnerst wer du bist“.
„Ich komme zu euch zurück“, wimmerte Desaria. „Ich tue alles was du willst, aber bitte lass Gabriel gehen“.
Elizabeth schüttelte enttäuscht den Kopf. „Nein Schwester. Diese blutleeren Worte würde jeder in deiner Lage sagen…. Das würde ein Mensch sagen“. Elizabeth deutete auf Gabriel. „Hier! Nasche nur einen kleinen Schluck. Koste von ihm, dann überlege ich es mir“.
„Du weißt, dass ich das nicht kann“, versuchte Desaria empört zu schreien, doch ihre Stimme blieb kraftlos und schwach. Würde Desaria in diesen Zustand Gabriel beißen, würde sie vor Hunger nichts mehr von ihm übriglassen. „Ich weiß nicht, was ich machen soll, Elizabeth. Tu mir das nicht an. Bitte beende es. Mir ist klar, du hast noch nie geliebt. Du hast keine Ahnung…“
Desaria stockte, als sie Elizabeths schmerzerfüllen Ausdruck sah. Und da erkannte Desaria, Elizabeth wusste sehr genau was Liebe ist – die Liebe zu ihrer Schwester.
Elizabeth erhob sich. „Ich tue dir gar nichts an. Du selbst bindest dich an diese Qualen. Und du selbst kannst sie beenden. Unsere Gesetze gelten auch für dich. Du willst Nahrung?“ Elizabeth deutete wieder auf Gabriel „Hier ist sie. Sobald du satt bist, darfst du wieder aus der Zelle. Also iss… oder verhungere“.
Elizabeth drehte sich um und ging. Zwei Wachen schlossen die Zellentür, während Desaria vor Verzweiflung und Wut aufheulte.

Dann fiel sie in ihren manischen Sprechgesang zurück: „Ich bestimme über mich selbst, ich bestimme über mich selbst, ich bestimme…“
„…saria!“
„… über mich selbst, ich bestimme…“
„Desaria!“
Wer ruft nach mir? „… ich bestimme über mich selbst…“
„Sie hat recht, Desaria!“
Gabriel? Ist das Gabriel? Wovon redest du, Gabriel?
„… ich bestimme über mich selbst…“
„Deine Schwester hat recht! Also hör auf, dich zu quälen.“
Nein, Gabriel, nein!
„… ich bestimme über mich selbst…“
„Die Zeit, die uns geschenkt worden ist. Diese wundervolle Zeit kann uns niemand nehmen. Diese Zeit ist so viel mehr, als dass sie von diesen letzten Tagen zerstört werden könnte“.
Hör auf!
„… ich bestimme über mich selbst…“
„Ich kann es nichtmehr sehen, Desaria. Ich kann nichtmehr sehen, wie du dich quälst. Ich habe es dir schon am ersten Tag unserer Gefangenschaft gesagt: Du musst dich nicht zurückhalten“.
HÖR DOCH ENDLICH AUF!
„Wir sind eins – für immer! Was auch passiert!“
Wir sind eins?

Endlich ließ Desaria los. Sie wurde überwältigt von einer Woge an Blutdurst und Gier. Trauer und Schmerz wurden mit ihrem Verstand hinfort gespült. Das Raubtier, das übriggeblieben war, schoss mit der Kraft des Hungers nach vorne, und grub Klauen und Zähne in weiches, warmes Fleisch. Haut zerriss, Blut sprudelte hervor, der Geruch der Beute überwältigte sie und entlockte ihr ein breites Lächeln.
Desaria quickte glücklich, saugte und kaute, und schmeckte und leckte. Durch den Nebel ihrer Sinne hörte sie lautes Geschei, doch es kümmerte sie nicht. Ihre Pranken spielten mit glitschigem Gedärm, nachdem es hervorgequollen ist. Sie saugte nicht einfach das Blut ihrer Beute. In ihrer maßlosen Gier fraß sich die Jägerin in den Torso hinein. Noch nie hatte sie sich so erleichtert und frei gefühlt. Nie hatte sie mehr Befriedigung verspürt als in diesem Rausch der Blutlust. Ihr Körper bebte und mit jedem Stück Fleisch, mit jedem Tropfen Blut wurde er stärker und mächtiger. Beuteknochen splitterten, der Brustkorb krachte. Das Geschrei, wurde kraftloser, und verwandelte sich in schicksalergebenes Gewimmer. Desaria wollte aufhören, aber es war so köstlich, und sie war noch lange nicht satt.
Der Leib der Beute zitterte. Der Geschmack des Fleisches änderte sich. Instinktiv wusste Desaria, dass die Beute kurz davor war zu verenden. Das Fleisch schmeckte plötzlich faulig und nach Tod, der rote Saft verlor sein würzig-aromatisches Bukett, und begann wie altes Moos zu müffeln.
Desaria wusste unbewusst, was das bedeutete. Totes Fleisch verwandelte sich in Gift für sie. Sie ließ von Gabriel ab.

Stille! Ungläubige Blicke! Der Hunger war nur noch Erinnerung. Der Nebel des Raubtiers lichtete sich. Desaria sah auf das blutige, tote Fleisch das einmal Gabriel gewesen ist. Sie blickte auf ihre roten, verschmierten Hände, auf ihren blutüberströmten Leib. Ihr ganzer Mund schmeckte noch nach Gabriel.
In einem ersten Reflex wollte Desaria das trocknende Blut von den Händen lecken. Da schrie wie vom Wahnsinn getrieben auf. Ihre ersten klaren Gedanken nach dieser Tat wollte das Geschehende nicht wahrhaben.
„Ich bestimme über mich selbst“, schrie Desaria, jetzt mit kraftvoller Stimme. Das war ich nicht! Das war niemals ich! Desaria versuchte zu rekapitulieren, was vor ihrem Angriff geschehen ist. War es Gabriel, der zu ihr gesprochen hat – der sie aufgefordert hat ihn zu fressen? Oder war es ihr Hunger, der sie mit Wahnvorstellungen lockte? Desaria sollte nie eine Antwort darauf erhalten.

***

Arvil schluckte betroffen, als Desaria fertig war. Er rang um Worte, fand aber nur akustische Schatten seiner Empfindung: „Das tut mir so unendlich leid, Desaria. Deshalb begleitet dich also stets diese Kälte. Du hast es nie überwunden.“
Schwarze Tränen liefen über Darias Wangen. Sie blickte Arvil starr in die Augen. Es ist so, als wäre sie wieder in diesem Kerker. „Das letzte Mal habe ich gelächelt, als ich Gabriel gefressen habe. Du wirst mich nie wieder lächeln sehen“.
„Was ist dann geschehen?“
„Elizabeth hat Wort gehalten. Nachdem ich satt war durfte ich die Zelle verlassen. Was sie jedoch nicht wusste, auch die Desaria, die sie kannte, ist in der Zelle gestorben.
Als sie die Türe öffneten, befreiten sie ein dunkles, hasserfülltes Wesen. Hass kann dich fressen, Arvil! Er kann dich verzehren, wie ich meine Liebe verzehrt habe.
Die beiden Wächter bei Elizabeth waren nicht vorbereitet. Sie hatten keine Chance. Nachdem ich sie getötet hatte, zerrte ich Elizabeth mit mir. Ich schlug sie, bis jeder ihrer Knochen gebrochen war. Ich wollte so sehr, dass sie litt“. Die Schwarzen Tränen flossen weiter. Noch immer starrte Desaria Arvil an, doch der Jäger erkannte: Sie sah durch ihn hindurch, in eine düstere Vergangenheit.
„Jetzt war sie es, die flehte, die versuchte an meine geschwisterlichen Gefühle zu appellieren. Aber ich habe das Leben aus ihr herausgeschlagen. Selbst als sie bereits zu Staub zerfallen war, habe ich diesen Staub auf harten Stein geschlagen.
Ich habe sie umgebracht! Alle beide. Ich habe an einen Tag jene umgebracht, die ich an meisten liebte.
Danach tauchte ich für viele Jahre unter, lebte im Elend und Dreck. Schließlich habe ich eine der unseren getötet. Ich hielt mich fern von der sogenannten Zivilisation“.

„O Desiaria“ Arvil schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, was ich sagen soll“.
„Du kannst alles sagen… solange es keine Worte des Trostes sind.
Elizabeth lehrte mich zu einem hohen Preis für uns beide eine wichtige Erkenntnis: Unsere Zivilisation ist nur Fassade. Am meisten versuchen wir die Täuschung vor uns selbst aufrecht zu erhalten. Der gleiche Abgrund, der in den Schwarzblut lauert, steckt auch in uns. Wir haben ihn nur verdrängt“. Desaria wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. „Nun geh! Doktor Neumann wartet sicher schon auf dich.“

***

Kurz darauf betrat Arvil das Labor des Doktors. Neumann schaute interessiert von seinem Mikroskop auf. „Erfolg gehabt?“
„Zwei auf dem Flughafen, drei in der Kanalisation.“
Neumann nahm seine Brille ab und rieb sich müde die Augen. „Nicht genug! Unsere Späher meldeten allein in der letzten Stunde acht neue Ausbrüche.“ Der alte Mann fuhr durch seine schütteren Haare.
„Geben Sie auf, Doc?“
Der Doktor legte einen Ausdruck zur Schau, als hätte man ihn ins Gesicht geschlagen. Doch er erwiderte ruhig: „Nein! Aber wir kommen einfach nicht weiter. Allein durch die Jagd werden wir die Seuche nicht aufhalten. Wir wissen noch zu wenig über den Erreger. Was den Ausbruch letztendlich auslöst, wissen wir auch nicht. Das Einzige was wir nach wie vor mit Sicherheit sagen können ist, dass es jeden von euch jederzeit erwischen kann. Es ist, als hätte man euch mit einem Fluch belegt, und jetzt spielt ihr russisches Roulette!“
Arvil lächelte gequält. „Na ja, Doc! Vielleicht waren wir schon immer verflucht.“ Desarias Schicksal ließ ihn nicht los.
„Jetzt klingst du wie deine Partnerin. Aber das hier ist etwas anderes!“
„Richtig, Doc. Diesmal seid ihr Menschen der Grund für den Fluch. Eigentlich solltet ihr euch beglückwünschen. Nach so vielen Jahrhunderten scheint es, als hättet ihr ein probates Mittel gefunden, um uns auszulöschen.“
„Und um damit was zu erschaffen? Eine noch gefährlichere Spezies?“
„Dann ist es also nur Zufall, dass die ersten Schwarzblut kurz nach der Aktivierung des Sonnenschildes zum ersten Mal aufgetaucht sind? Ich behaupte nicht, Doc, dass ihr die Seuche bewusst unter uns verbreitet habt, aber ich bin überzeugt: Es gibt da einen Zusammenhang.“
„Spekulationen bringen uns nicht weiter. Wir brauchen konkrete Ergebnisse. Wir brauchen …“ Neumann brach ab und setzte sich die Brille wieder auf. „Arvil! Wir brauchen ein lebendes Exemplar! Der Staub der toten Kreaturen ist so nutzlos wie unser Rätselraten über deren Ursprung. Wir müssen den Virus isolieren.“
„Ich verstehe!“ Arvil nickte dem Doktor zu und verließ das Labor.

***

In der folgenden Nacht betraten Arvil und Desaria eine dunkle aber gut erhaltene gotische Kathedrale in einem verlassenen Winkel der Stadt. Hier hatten sie schon öfter Kontakt mit einem Schwarzblut gehabt, und heute sollten sie auf eine schreckliche Weise erneut fündig werden.
„Lebend!“ zischte Desaria. „Wie stellen wir das an?“
„Ganz einfach: Wir pumpen unsere Magazine leer, dann schlagen wir dem Ding alle Glieder ab und packen den Rumpf vorsichtig ein.“
„Das gibt eine gewaltige Sauerei!“ Desaria rümpfte angewidert die Nase. Ihr war nicht wohl dabei. Einen Infizierten rasch zu töten war eine Sache, aber ihn verstümmeln und quälen … Desaria blieb mit gezogener Waffe plötzlich stehen.
„Komm!“ rief Arvil. „Du nimmst die linke Seite und ich die rechte. Und bleib in Deckung!“
Doch als er sich auf dem Weg machen wollte bemerkte er, dass Desaria keine Anstalten machte, sich zu rühren. Sie hatte ihm den Rücken zugekehrt und schien ihr Augenmerk auf die verfallenen Bankreihen zu ihrer Linken zu richten.
Da konzentrierte sich auch Arvil auf diesen Bereich. „Desaria? Hast du etwas entdeckt?“ flüsterte er.

Wie auf ein lautloses Kommando fuhr Desaria blitzschnell herum. Sie brüllte auf.
Wäre Arvils Herz das eines Menschen gewesen, hätte es jetzt vermutlich vor Überraschung und Entsetzen ausgesetzt. Er wusste, dass die Seuche schnell ausbrechen konnte. Aber das war zu schnell! Viel zu schnell.
Seine Gedanken rasten, als er in Desarias pechschwarze Augen blickte. Alles was seine einstige Freundin charakterisiert hatte, war bereits daraus entwichen. Diese toten, dunklen Perlen fixierten ihn und kennzeichneten ihn als Beute.

Arvil prüfte blitzschnell seine Optionen. Was sollte er tun? Die vorher beschriebene Behandlung ihr angedeihen lassen? Überdies war sich Arvil bewusst, dass Doktor Neumann an dem gefangenen Schwarzblut grauenhafte Test durchführen musste. Dieses Ende hatte Desaria nicht verdient.

Indessen ließ Desaria ihre für sie nutzlos gewordene Waffe fallen und stürzte auf Arvil zu. Ein weiteres markerschütterndes Heulen hallte durch das gotische Gemäuer.
Arvil hielt sein Schwert bereit. Das stumpfsinnige Ding, das einmal Desaria gewesen ist, war schon so nahe, dass es ein Leichtes für ihn gewesen wäre, den Angriff mit einem tödlichen Stoß abzuwehren. Doch er wartete. Er wusste jetzt, was er zu tun hatte.
Desaria. Ist noch ein kleiner Teil von dir übriggeblieben? Doch seine Gedanken waren mehr Wunsch, als Hoffnung.

Die Jägerin riss ihn nieder und trieb ihre monströsen Hauer mit einem triumphierenden Schrei in seine Wange, während ihre Klauen seine Brust durchstießen. Erst jetzt bediente er sich der Klinge. Arvil überwand die lähmenden Schmerzen, sammelte seine Kraft, und stieß seine Partnerin von sich. Dann schnellte die Klinge vorwärts, mitten in Desarias Brust. Die verfluchte Jägerin röhrte noch einmal gequält auf, dann wurde ihrem lichtlosen Leben ein gnädiges Ende geschenkt.

Arvil sah still zu, wie Desarias Leib zu Asche zerfiel. Er rieb sich die blutende Wange. Wahrscheinlich breitete sich der Erreger bereits unermüdlich aus. Wieviel Zeit mochte er noch haben? Tage? Stunden? Sekunden? Er hoffte, es verbleibt noch genug.
„Nun haben Sie ihr Schwarzblut, Doc! Ich hoffe, dass war es wert. Ich hoffe wirklich, Sie finden ein Gegenmittel!“

Bevor Arvil sich dem Doktor zur Verfügung stellte, fuhr er hoch in den vierundachtzigsten Stock des Neumanntowers.

Er stand auf der Terrasse und in einer Hand hielt er Desarias Asche, die er noch sorgsam eingesammelt hatte. Er streckte den Arm dem nahenden Sonnenaufgang entgegen.

„Für dich, Desaria! Kannst du ihn sehen?“ flüsterte er, als die ersten Strahlen hinter den Häusern erschienen. Arvil öffnete die Hand, eine leichte Brise trug Desaria hinauf zum Schirm, der warmen Sonne entgegen.

Überarbeitet Michael Sagenhorn Poing, Juli 2023 / Erstfassung Michael Sagenhorn München, 03.06.2008

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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