Genre: Horror, Mystery – Geeignet ab 16 Jahren
„…Tod muss abgeschafft werden, diese verdammte Schweinerei muss aufhören. Wer ein Wort des Trostes spricht, ist ein Verräter.“
„Bitte?“ Helene Schmidt, aus der Kulturredaktion einer bekannten Tageszeitung schreckte auf.
„Von Bazon Brock! Dieses Zitat ist in einem berliner Hinterhof verewigt, auf einem Schild. Zumindest, wenn man Wikipedia glauben darf“.
Helene musterte den Mann, der sie angesprochen hatte, mit einer Mischung aus Müdigkeit und Neugier. Er war gut gekleidet, hatte sein glattes Haar nach hinten gekämmt und seine grünen Augen strahlten helle Wachsamkeit aus. Mit einem selbstsicheren Lächeln hielt er mühelos ihrem beurteilenden Blick stand.
„Machen Sie das immer so?“ fragte Helene.
Der Mann hob fragend seine Augenbrauen.
„Frauen mit Wikipedia-Einträgen imponieren wollen?“
„Nur wenn ein Professor für Ästhetik wie Bazon Brock so herrlich deutliche Worte wählt, und damit einen interessanten Gegensatz zu den Erwartungen an seine Person ins Leben ruft. Dabei empfinde ich ein angenehmes Schaudern. Genauso wie ich es empfinde, wenn ich einer attraktiven Frau gegenüberstehe. Gestatten Sie mir, dass ich mich vorstelle: Melian Thron.“
„Dann sind Sie der Galerist!“ Helene erwiderte matt sein Lächeln. Sie gaben sich die Hände.
Das Bilderpodium, die kleine Galerie von Melian Thron lag mitten im Herzen von München, an einer beschaulichen, kaum frequentierten Ecke der Altstadt, eingebunden in rustikale Häuserfassaden. Trotzdem entsprach die Galerie nicht dem urtypischen bayrischen Flair, sondern strahlte eine eigene Aura aus, zeitlos und ohne in kulturelle Wurzeln verhaftet zu sein. Besonders zu dieser Stunde, einem dunklen Januarabend, spürte man förmlich, wie sich ein befremdlicher Schleier über der Galerie ausbreitet.
„Ich freue mich, dass Sie kommen konnten“, fügte Melian Thron der Begrüßung an.
„Ihre Einladung zur heutigen Vernissage hat uns neugierig gemacht. Allerdings weiß ich nicht, ob sich daraus ein Artikel machen lässt.“
Helene deutete auf das breite Bild, das die Wand vor ihr ganz für sich zu vereinnahmen schien. Trotz der harten Arbeitswoche, eine von vielen harten Arbeitswochen, und der daraus resultierenden Erschöpfung, vermochte es das Bild ihre Geister wieder zu beleben. Sie hatte es intensiv studiert, bevor sie von Thron angesprochen worden war.
Auf dem Gemälde zu sehen: Ein idyllisches weißes Landhaus, im alten französischen Stil, steht im Zentrum. Das Haus ist umgeben von Weiden, deren Äste bis zur Erde hängen, im Hintergrund blauer, leicht bewölkter Himmel. Aneinandergereihte Pflastersteine zerteilen den saftig grünen Rasen und bilden einen schmalen Pfad zum Haus. Bei näherer Betrachtung erkannte man rechts unten eine geschwungene Schrift, die auf den Schöpfer des Werkes hinwies: P.M. Vari.
“Paul Marcel Vari war einer der bedeutendsten Künstler seiner Zeit“, sagte Melian Thron. „Sehen Sie sich das Gemälde an! Naturgetreue Werke mögen heutzutage von Kunstkennern verschmäht werden, aber haben Sie je eine faszinierendere Komposition aus Farben und Formen gesehen? Die Ausarbeitung ist von unübertroffener Klarheit.“
Tatsächlich hätte man das Bild bei einem flüchtigen Blick für eine Fotografie halten können, selbst dreihundert Jahre nach dessen Entstehung. Mehr noch! Jedes Detail war so akribisch gezeichnet, dass der Eindruck entstand, man wäre in der Lage mit dem scharfen Auge eines Falken in das Bild hinein zu tauchen. Der Künstler hatte es geschafft, die Struktur im Holz des Hauses und der Bäume auf der Leinwand festzuhalten. Die Maserung war so dünn, dass selbst das einzelne Haar eines Pinsels es nicht vermocht hätte, diese schmalen Linien zu zeichnen, und doch hob sich jede Linie, jeder Schwung vom Gesamtwerk ab.
Selbst die kleinen weißen Klümpchen, die sich unweigerlich beim Anstrich des realen Hauses bilden, wurden Punkt für Punkt auf das Gemälde übertragen. Von der Position des Betrachters hätte man die Klümpchen, die Maserung, die Details des Grases und die der hellen Wolken nie mit bloßem Auge ausmachen können, wäre der Betrachter vor dem tatsächlichen Haus gestanden, doch das Bild spottete der Schärfe des menschlichen Auges.
Dazu kam die befremdliche Mischung der Farben. Fast schienen sie der Natur selbst entnommen worden zu sein. Und so entfaltete das Gemälde seinen eigenen Charme, hervorgerufen durch die Malkunst seines Schöpfers.
Helene hatte sich die ganze Zeit gefragt, welche Farben eine derartige Natürlichkeit und zugleich solch unwirkliche Nuancen zustande brächten. Dennoch erwiderte sie:
„Aber es ist das einzige Bild in der Galerie. Finden Sie es nicht sehr gewagt, eine Kunstausstellung mit einem einzigen Bild zu eröffnen?“
Die Journalistin sah sich um. Die übrigen Besucher konnten mit den Fingern an zwei Händen abgezählt werden. Sie nahmen regen Anteil am Buffet.
„Gewagt ist Kunst immer“, fuhr der Galerist fort. „Bedauerlicher Weise verschwand Vari, gleich nachdem er das Bild seines Geburtshauses vollendet hatte. Es war sein erstes und zugleich sein letztes Werk.
Dennoch faszinierend, dass er sich allein mit diesem Bild zumindest einen bescheidenen Namen machen konnte.“ Thron seufzte gedankenverloren. „Ein Jammer! All die Werke, die er niemals umsetzen konnte… Dennoch! Vari lebt durch dieses Bild weiter“.
Nun beobachtete auch Melian Thron die speisenden Gäste. Helene war sich sicher, dass sie für einen Augenblick einen Anflug von Missfallen in seiner Miene ausmachen konnte. „Keine Liebe für geistige Genüsse“, seufzte er. „Ich werde Sie nun mit ihren Eindrücken alleine lassen. Bitte endschuldigen Sie mich. Ich muss mich um meine weniger kunstbegeisterten Besucher kümmern“.
Helene war nicht hungrig. Ein letzter Blick auf das Gemälde, dann wollte sie nach Hause, um kurz die frischen Eindrücke in Stichpunkten für ihren Artikel festzuhalten. Sie war sogar zu erschöpft, um sich dreckig zu fühlen. Die Dusche kann bis morgen warten. Sie wollte nur noch schlafen, und hoffte, dass Rainer, der Mann mit dem sie zusammenlebt, keine Lust aufs Vögeln oder Quatschen bekam. Eine weitere anstrengende Woche lag vor ihr, voll mit geschäftlichen Terminen…
Was ist das? Die Stimmung des Bildes hatte sich geändert. Der soeben noch leicht bewölkte, freundliche Himmel zeigte jetzt ein dunkelblaues Gesicht, angereichert mit dichten, grauen Wolken.
Helene schüttelte den Kopf. Sonnenschein drang kaum noch durch, der kräftig leuchtende Tag wich dem Zwielicht der Dämmerung. ‚Du bist erschöpft! Die Arbeit der letzten Tage war einfach zu viel’. Zudem hatte Helene ihre Pillen, die sie Muntermacher nannte, nicht genommen. Die Journalistin rieb sich mit den Handballen die Augen, eine plötzlich aufkommende Böe fuhr durch ihr langes, blondes Haar.
‚Macht doch die Tür zu’, dachte sie genervt über den unerwarteten Luftzug. Sie nahm die Hände vom Gesicht. Ihre Sehkraft war noch etwas verschwommen, von dem Handdruck auf die Augen, aber das was sie erkannte reichte aus, um ihr Herz wild schlagen zu lassen. Sie schrie.
Helene stand nicht mehr in der Galerie. Vor ihr ruhte das weiße Landhaus Varis still und abwartend, und hieß sie mit geduldiger Gleichmut willkommen.
Die Weiden wiegten ihre langen Äste im Wind, als wollten sie Helene begrüßen. ‚Tritt ein!‘ rauschten ihre Blätter. ‚Komm näher und bestaune das Wunder!‘ Helene glaubte auch ihren Namen zu hören.
„Nein, Nein, Nein!“ wimmerte sie mit zitternden Knien. „Nein, Nein!“ Dieser Galerist hatte etwas ins Tafelwasser gemischt, das sie gleich nach ihrer Ankunft getrunken hatte. Das muss es sein! „Mein Gott!“ rief Helene. „Er fickt mich, während diese verdammten Weiden mir zuwinken!“ Bestimmt führte sie Melian Thron gerade eben von den anderen Gästen weg, damit er unbemerkt über sie herfallen konnte, während sie in einer Welt der Illusionen gefangen war. „Hilfe!“ kreischte sie. Einer der Gäste musste sie hören, wenn nicht die auch schon betäubt worden waren. Was hatte Thron noch gesagt? Er müsse sich um die anderen Gäste kümmern? Noch einmal aus Leibeskräften: „Hilfe!“
Da schwang sanft die Eingangstür des Hauses auf. ‚Ich werde nicht hineingehen!‘ Ängstlich blickte sich Helene um. Die Landschaft, die sich bedrohlich vor ihr auftat, ängstigte sie noch mehr. Ohne es wirklich zu wollen stakste sie Richtung Haus, angezogen von der lockenden Kraft, die es ausstrahlte. Schritt folgte auf Schritt. Das Haus nahm immer mehr Raum in ihrem Sichtfeld ein. Wieder ein Schritt. Sie konnte schon den Treppenaufgang hinter der Eingangstür erkennen. Noch ein Schritt. Helene übertrat die Schwelle und kam im Haus zu stehen. Von ihr unbemerkt schloss sich lautlos die Tür.
Der Treppenaufgang lag rechts.
Klack!
An den tapezierten Wänden hingen, dem Aufgang entlang, viele Bilder in verschiedenen Formen mit banalen Motiven, jedoch war jedes Bild so detailgenau wie das, in das Helene eingetaucht war. In einem Bild hängt eine alte Frau, vor einem Wäschekorb stehend, ein Hemd auf die Leine. Auf einem anderen tunkt ein frech grinsender Junge mit Grashalm im Mund, seine Füße in einen Bach. Im nächsten schlendert ein gebeugter Bauer mit Kuh einen Weg entlang.
Klack!
Aber was Helene fast in den Wahnsinn trieb, war der Eindruck, den sie mehr und mehr vom inneren des Hauses gewann. Denn es ließ sich nicht abstreiten, dass sie wirklich in einem Gemälde stecken musste. Die Einrichtung, der Boden, die Treppen, alles um sie herum, erweckte den Eindruck als wäre es gemalt, mit einer Klarheit, die jeder Realität spottete und doch in satten Farben, mit künstlerischer Eleganz. Ein dreidimensionales Tableau in Öl. Wohin sie auch sah, sie war umgeben davon.
Links neben ihr lag die Küche, schräg ihr gegenüber führte eine zweiflüglige, geschlossene Holztüre in einen anderen Raum, von dem Helene nur vermuten konnte, dass es sich um ein Herrenzimmer handelt. Die Journalistin trat einen Schritt näher. Sie rang mit Neugier und Schrecken, als sie aus dem oberen Stock zum dritten Mal ein Geräusch hörte, das sie erst jetzt bewusst wahrnahm.
Klack! Etwas ist auf den Holzboden gefallen, denn obwohl es gemalt ist, ist es immer noch Holz.
„Ist da jemand?“ Helene näherte sich der Treppe. Sie sah hinauf und wartete.
Klack!
„Hallo?“ Ihre kraftlose Stimme zitterte, als sie auf den ersten Treppenabsatz trat. Unbewusst berührte sie das Geländer. Nichts!
Kurz wandte sie sich nochmal den banalen Bildern zu. Deren Signatur: P.M. Vari. Ihr Herz klopfte immer schneller.
Klack!
Als sie wieder nach oben sah, begannen die Farben der Umgebung zu verblassen. Als würde alles in einen Grauschleier getaucht. Trotzdem betrat sie vorsichtig die nächste Stufe. Sie knarrte unter ihrem Gewicht. „Sagen Sie doch was!“
Klack!
„Jetzt ist es genug!“ Helene nahm ihren ganzen Mut zusammen und rannte die Treppe hinauf. Doch oben angekommen, war niemand zu sehen. Nur ein Gang mit weißen Türen, und andere Werke des Künstlers, die die fensterlosen Wände schmückten. Das schummrige Licht der rustikalen Deckenlampen tauchte die Bilder ins Halbdunkle.
Klack!
Helene betrachtete die Bilder. Entsetzt riss sie die Augen auf. Diese Kunstwerke reflektierten nun keine Alltagsszenen mehr.
Ihr erster Blick fiel auf ein Bild, das eine junge Frau in der Badewanne zeigte. Die Wanne ist bis oben hin mit Blut gefüllt, an manchen Stellen schwappt es heraus und strömt herab. Das kräftige Rot der Flüssigkeit trotzt als einziges dem gefräßigen Grauschleier, aufgrund dessen kalter, trostloser Farben die Umgebung fast zu Eis gefriert. Die Frau selbst: Bleich sieht sie den Betrachter an, mit toten Augen in denen noch eine vergebliche Hoffnung aufflackert, ihrem endgültigen Schicksal entrinnen zu können.
Ein weiteres Motiv zeigte einen Gehängten, der kopfüber an einer der Weiden pendelt und aus unzähligen Wunden blutet. Der Unterkiefer ist herausgerissen. Sein Blut rinnt in Bächen herab, tränkt die gierige Erde darunter und ernährt den durstigen Baum.
Die nächste Arbeit stellte einen nackten Mann zur Schau. Er hält die Arme gekreuzt vor die muskulöse Brust und lächelt sorglos, obwohl ein Blutstrom, seinen Handgelenken entrinnt. Denn jemand hatte einen langen Nagel durch die gekreuzten Handgelenke direkt in die Brustmitte getrieben.
Klack!
Die Journalistin fuhr herum. Endlich ortete sie die Richtung des Geräusches. Zu ihrer Linken, unter einem Bild, lagen verstreut unzählige Murmeln. Schwer atmend wankte sie auf das Bild zu. „O Nein!“ Darauf zu sehen: Ein Kinderzimmer. Die Bewohner des Zimmers, waren nicht festgehalten, doch verrieten zertrümmerte Möbel und durcheinander geratene Holzspielsachen und Puppen, dass hier etwas Entsetzliches geschehen sein muss, nicht zuletzt deshalb, weil auch hier der Maler mit Blut nicht gespart hatte. Im Vordergrund lagen rote Glasmurmeln die –
Klack!
– aus dem Bild herausrollten und in die gemalte Realität des Hausbildes eindrangen. Auf der Wand des Kinderzimmers steht ebenfalls mit Blut geschrieben: „Ewiges Leben bedarf keines Trostes.“
Die Journalistin begann zu wimmern. Tränen liefen ihr aus den Augen, doch Tränen waren nicht die Flüssigkeit, die das Haus begehrte. Hier also, fand die eigentliche Vernissage statt, nicht in der Galerie des geheimnisvollen Melian Thron. Helene glaubte nicht mehr daran, dass Thron sie betäubt hatte. Vielmehr drängte sich ihr die innere Gewissheit auf, dass der Mann nichts mit dem, was hier geschieht zu tun hat. Das Haus flüsterte es ihr zu.
„Ich muss raus!“ schrie Helene. Hastig türmte sie von den Bildern und schoss die Treppen hinab.
„Warum willst du uns verlassen?“ raunte das Haus. „Hier erwartet dich ewiges Glück. Werde ein Teil meines Schaffens. Werde ein Teil von mir.“
Das war also Paul Marcel Vari wirklich! Künstler und Kunstwerk zugleich. Vari war weder verschwunden, noch tot, begriff Helene. Er ist ganz in seinem Kunstwerk aufgegangen und hing nun an der Wand einer kleinen münchner Galerie. Er lebt und malt sich selbst innerhalb dieses Hauses weiter.
Im Erdgeschoß angekommen stoppte Helene abrupt, als hätte sie eine Erkenntnis übermannt. „Moment!“ Zaghaft ging sie in den ersten Stock zurück und betrachtete die Bilder erneut.
Ja, Vari lebt! Aber zum Überleben für sich und seine Bilder benötigt der geniale Künstler Nahrung, wie jedes andere Lebewesen auch. Welche Nahrung das ist, erschloss sie aus diesen Bildern.
Und bei genauerer Betrachtung sahen seine Bilder gar nicht mehr so grausam aus. Ja, es waren unvorstellbare Gräueltaten darauf zu sehen, und doch verhießen sie eine Ruhe und Geborgenheit, die Helene schon lange nicht mehr gespürt hatte. Unweigerlich musste Helene an die Küche im Erdgeschoß denken. Irgendetwas zog sie magisch zu dieser Küche hin. Sie fühlte sich, wie eine kleine Motte die zu nah an eine heiße Lichtquelle kam.
Große Güte! Helenes Gedanken entglitten ihr. Es juckte sie, etwas Unvorstellbares zu tun. Nein! Bitte! Diese Bilder infizierten sie durch ihre Augen mit Gewalt… Oder war diese Gewalt schon immer in ihr, und schält sich jetzt durch die Schale des zivilisierten Lebens?
Ich will weg! … Aber wohin willst du fliehen? … Zurück in den Alltag eines wertlosen Lebens? Das ist kein Leben! Das ist der Tod!
Richtig! Ihr kräftezehrender Alltag saugte Stück für Stück das Leben aus ihr heraus, – bedeutungslose Aufgaben saugten wie Vampire an ihrer Jugend und ihrer Frische. Jener Alltag, den sie auch mit einem Mann an ihrer Seite verbringen musste, den sie nicht liebt, aber trotzdem erträgt, nur damit sie nicht von der Einsamkeit verschlungen wird.
Wo ist diese Geborgenheit, die ihr als Kind zuteilgeworden ist geblieben? Kann Helene sie hier wiederfinden? Langsam schritt sie die Treppe wieder hinab, hin zur Küche.
Dann fand sie einen Gegenstand, und es kam ihr so vor, als hätte sie genau danach gesucht. Auf einer Ablage ruhte ein scharfes, gezacktes Fleischermesser. „Wie groß es ist! Und wie schön!“, stellte Helene fest. Sie lächelte begeistert, und quickte verzückt bei immer verrückter werdenden Gedanken, denn das Haus hörte nicht auf, von einer wunderbaren Zukunft zu flüstern. „Wie wunder, wunder schön! Wäre es nicht phantastisch, wenn… Nein! Dafür bin ich leider zu schwach!“ An Flucht wollte Helene nicht mehr denken. Das Fleischermesser blitze in ihren verträumten Augen, das scharfe Metall, das eigentlich nur aus Farbe bestand lud sie ein, es ausgiebig zu nutzen. „Doch! Ich will es zumindest versuchen!“
Wie unter Drogen gebar sie eine berauschende Idee. Euphorisch singend und summend griff die nach ihrem Schopf, setzte sich das Messer an die Kehle und presste es mit schneidenden Bewegungen ins weiche, warme Fleisch.
Rainer Felger, Helenes Lebensgefährte suchte noch lange nach ihr. Weder ihre Kollegen noch ihre Mutter, noch ihr Freundeskreis hatte seit der Vernissage wieder etwas von Helene Schmidt gehört. Melian Thron gab bei der Polizei an, dass sie nach ihrem Gespräch spurlos verschwunden sei. Er hatte angenommen, sie wäre nach Hause gegangen, aber dort war sie nie angekommen.
Helenes Verschwinden blieb ein Rätsel. Hätten sie die Galerie im Landhaus des Gemäldes erkennen können – hätten sie hineinsehen können, wäre ihnen vielleicht ein neues Bild im ersten Stock aufgefallen, gleich neben dem, mit der Kinderstube. Das Bild zeigte eine alte Küche, in deren Mitte steht eine Frau mit blutleerem Leib. An der linken Hand hält sie ein benutztes Fleischermesser, an der Rechten baumelt ihr abgetrennter Kopf am blonden Schopf. Trotzdem zeigt das hübsche Gesicht des Kopfes ein überglückliches Lächeln, und die Augen glühen voller Leben.
Überarbeitet Sagenhorn Poing, Mai 2023 / Erstfassung Sagenhorn München, 01.03.2009