Michael Sagenhorn/ Januar 16, 2023/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genre: Horror, Mystery – Geeignet ab 16 Jahren

© Michael Sagenhorn 2006

Seit Tagen litt Rudolf Schwarz an schrecklichen Schmerzen. Es hatte begonnen mit leichten Magenstechen, Kopfweh und Übelkeit. Kleine Verstimmungen, für die Rudolf zuerst das Alter verantwortlich machte: „Ein Mann, der Mitte Vierzig noch keine Wehwehchen hat, ist tot!“ Das war Rudolfs Ansicht. Aber dann wurden die Schmerzen immer eindringlicher.

Rudolf erinnerte sich an das Abendessen in einem indischen Restaurant, und vermutete den Ursprung seines Missbehagens in der exotischen Küche. Dieses Essen schmeckte hervorragend, bereitete ihm jedoch stets Probleme, wegen der Gewürze. Dieser fröhliche Abend mit Freunden lag jetzt eine Woche zurück. Am Morgen danach hatte er zum ersten Mal dieses seltsame Unwohlsein verspürt.

In dieser Nacht wurde Rudolf von grauenhaften Krämpfen aus dem Schlaf gerissen. Die angespannte Muskulatur verhärtete beide Beine zu nutzlosen Stecken. Auch sein Verdauungstrakt rebellierte. Es kam Rudolf so vor, als würde sich das Gedärm durch den Körper schlängeln und dabei Magen und Leber umschnüren.
Zudem plagte ihn furchtbarer Durst. Die Statistiker verzeichneten den heißesten Sommer seit 1907. Selbst in den Nächten kühlte seine Plattenbauwohnung kaum noch aus. Rudolf hoffte inständig, dass der gesteigerte Bedarf an Flüssigkeit nur mit der Hitze zusammenhing, denn der nahm mit jeder Verschlechterung seines Befindens zu.
„So geht’s nicht weiter!“ presste Rudolf hervor, während er zornig gegen seine Beine schlug. „Wenn’s morgen nicht besser ist, geht’s zum Arzt“.

Nachdem sich seine Krämpfe endlich gelöst hatten, humpelte er ins Badezimmer, zum Waschbecken. Er drehte den Wasserhahn weit auf, schob seine Hände unter das spritzende Wasser und befeuchtete sein Gesicht. Dann hing er seinen Mund gierig in den Strahl, das begehrte Nass gluckerte die Kehle hinunter. Jeder Schluck linderte den Schmerz für einen erholsamen Augenblick, doch der Durst ebbte kaum ab. Erst als der Stausee, in seinem Bauch, fast zu bersten begann, schlich er ins Bett zurück. Er wollte zumindest versuchen noch ein wenig Schlaf zu finden.

Am nächsten Morgen fühlte Rudolf sich zwar matt, aber fast vom Schmerz befreit. Er beschloss den Besuch bei seinem Hausarzt zu vertagen. Im Büro wartete ohnehin viel Arbeit, und sie wartete auf ihn – nur auf ihn. Sie war die fordernde Geliebte. Sein Dienst an ihr, konnte zuweilen beglückend sein, ja fast ekstatisch. Aber hin und wieder auch zutiefst frustrierend. Trotzdem: Man lässt seine Geliebte nicht warten. Rudolf verrichtete die Morgentoilette und machte sich auf den Weg in ihre Arme.

Bis zur Mittagspause verlief der Tag ohne besondere Zwischenfälle. Da zog ihn ein unbändiger Hunger zur Kantine. Kalbsherz und Lachs lagerten in den metallenen Warmhaltetrögen der sterilen Essenausgabe. Normalerweise wäre es Rudolf nie in den Sinn gekommen, sich für das Herz zu entscheiden. Er verabscheute Innereien aller Art, doch diesmal blinzelte ihn das Gericht auffordernd zu. Unter den erstaunten Blicken seiner Kollegen verschlang er den gebratenen Muskel und spülte das zerkaute Fleisch mit einen Liter Tafelwasser hinunter. Doch sein Hunger erwies sich als unersättlicher Jäger, der ihn dazu trieb, die Kantinenhilfe um eine weitere Portion zu bitten.

„Was ist mit dir los?“ fragte Nina, eine Kollegin, als Rudolf über seinen Nachschlag herfiel. „Du bist doch sonst ein sparsamer Esser, – und dann noch Kalbsherz?“.

„Weiß nicht. Ich habe solchen Hunger“.
Plötzlich wurde die Realität von einem furchtbaren Tagtraum verdrängt: Von überwältigenden Schmerzen gepackt, zerriss Rudolf sein Hemd. Unter den Stofffetzen erhoben sich kleine Beulen aus dem Oberkörper. Zugleich zerfiel die Haut zu einer sumpfigen Masse. Jede Beule verformte sich zu einem nassen Maul mit spitzen Zähnen. Die Mäuler schnappten und schnappten und vertilgten jeden Happen des zähflüssig gewordenen Fleisches, das an Rudolf herabrann. Und hinter dem Brustkorb labten sich unzählige weitere Mäuler an seinem eigenen noch schlagenden Herz.
„Himmel! Sie fressen mich auf!“ Sein Schrei blies die Trugvorstellung fort.
Es wurde still. Alle Anwesenden drehten sich in seine Richtung. Rudolf blickte zurück. Verwirrt, verschreckt, nahe daran den Verstand zu verlieren. Trotzdem brachte er so was wie ein verlegenes Lächeln zustande. „Ich … ich meinte, ich habe eine Menge Mäuler zu stopfen.“ Bei dem Gedanken, als Nahrung für sich selbst zu dienen, verfiel er in irres Gelächter. „Eine große Menge Mäuler!“ Als er aus der Kantine floh, lachte er immer noch.

Am frühen Nachmittag begann es erneut. Mit ungeahnter Heftigkeit umspülte ihn der Schmerz wie eine riesige Welle, die nahe dran war, ihn vom Bürostuhl zu reißen. Sofort dachte er an die Mäuler. Überall ein grässliches Stechen und Ziehen, als ob er von innen heraus zeriss. Dann ließ der Schmerz abrupt nach. Rudolf atmete tief durch. „Wenn’s morgen nicht besser wird, geh’ ich zum Arzt!“ sagte sich Rudolf. „Ganz bestimmt!“

Die Tage verstrichen, Rudolfs Stuhlgang blieb aus. Sein Leib sammelte sämtliche Stoffe und war nicht mehr bereit, etwas davon herzugeben. Zuerst fand Rudolf es praktisch, keine Zeit mehr mit täglichen Sitzungen zubringen zu müssen, doch bald fragte er sich, was der Körper mit all der Nahrung anfing. Die Angst vor seinem Körper wuchs. Er schien Rudolf immer weniger zu gehören. Sein Hausarzt hätte vielleicht eine Erklärung gefunden, doch bis heute war Rudolf nicht bei ihm gewesen.

Der Abend des zwölften Tages! Heißhungrig betrat Rudolf die Küche. Er wühlte fieberhaft in den Schränken nach etwas Verwertbaren und kramte eine Dose Linsen hervor. Dann packte er die Wienerwürste, aus dem Kühlschrank und schmiss sie auf ein Schneidbrett. Während er eine scharfe Klinge aus dem Messerblock befreite spürte er, wie etwas seine Innereien durchwühlte. „Ein Wurm! Mein Gott! Ich habe einen Wurm.“ Doch Rudolf begriff schnell am Ziehen in der Leistengegend, dass es unmöglich ein Wurm sein konnte. Sein Darm war abermals erwacht. Einmal schlug er so heftig aus, dass sich die Bauchdecke wölbte. „Das ist nichts!“ schrie Rudolf. „Ich brauche nur etwas zu essen. Mehr nicht!“ Rudolf begann die Würstchen klein zu schneiden. Das Messer trommelte auf das Holzbrett.

Zack. Zack. Zack.
„Wieso ich? Wieso zur Hölle ich? Und was ist es?“ grübelte Rudolf und schnaufte seine Angst mit heftigem Atem heraus. „Dieses verdammte indische Essen! Diese verdammten Inder, und ihre verdammten Gewürze!“

Zack. Zack.
“Hausmannskost! Das ist, was ich brauche. Jaaa, die gute alte Hausmannskost“. Rudolf zeigte wieder ein irres Lächeln.

Zack. Zack. Zack.
„Soll ich einen Krankenwagen rufen?“ Doch Rudolf hasste Krankenhäuser. „Ach was! So schlimm ist es nicht. – Aber morgen gehe ich zum Arzt!”

Zack. Zack!
Rudolf blickte verdutzt auf das Holzbrett. Der Saft der Würstchen vermischte sich mit seinem Blut. Diesmal schmerzte nichts. Nur ein leichtes Brennen am Stumpf, wo eben noch sein Zeigefinger gesessen hatte. Nun lag der größte Teil des Fingers neben den Wursträdern, als Beilage die bei anderen vermutlich Brechreiz ausgelöst hätte. “Mein Finger! Jetzt brauche ich auf jeden Fall einen Arzt!”
Rudolf passte den Finger kurzer Hand instinktiv an die Wunde, als handle es sich bei dem Körperteil nur um den abgebrochenen Griff einer Kaffeetasse. Hatte er wirklich die Hoffnung, er würde von alleine wieder anwachsen? Doch genau das geschah. Kaum hatte der Finger den Stumpen berührt, nahm ein geheimnisvoller Reparaturdienst die Arbeit auf, und nähte Knochen und Muskeln zusammen. Nach wenigen Sekunden ließ sich der Finger wieder bewegen. „Das bin nicht ich! … Ich bin nicht mehr mein Körper … Das kann unmöglich an den Indern liegen! … Was machst du mit mir?“

Vier Stunden nach diesem Vorfall drückte die heiße Nacht einen schwülen Lufthauch durch das offene Wohnzimmerfenster. Irgendwo bellte ein Hund. Ein Anwohner sah sich seiner Ruhe beraubt und rief zornige Verwünschungen aus dem Fenster. Rudolf bemerkte das kaum. Er saß nackt, im dämmerschlafähnlichen Zustand auf der Couch, den Kopf weit nach hinten gestreckt, den Mund über den Hals aufgerissen, da sein Unterkiefer bis zu den Schultern aufgeklappt war. Aus diesem roten Canyon ragte die trockene, geschwollene Zunge steif und unnatürlich lang heraus. Ab und an zuckte sie oder leckte über aufgeblähte Lippen. Milchblasse Augen starrten zur Decke, die Haare wiegten sich wie Grashalme bei einer Briese, obwohl der Luftzug sicher nicht als Verursacher dafür in Frage kam.
Seine Füße hafteten seltsam verdreht auf dem Parkett, die Zehen unnatürlich weit gespreizt und fest mit ihren Nägeln im Holz verankert.
Daneben lagen Brocken seines Fleisches, von den Armknochen gerissen mit einer Kraft, die seinem Ekel und seinem Grauen entsprungen sein mochte. Sie wanden sich wie Egel in kleinen blutigen Lachen. Diese Fleischstücke hatte Rudolf nicht wieder an den Mutterleib gepasst. Die Arme hatten nichts desto Trotz begonnen Wurzeln zu schlagen. Glänzend rote Sehnenstränge arbeiteten sich durch die aufgebrochenen Unterarme und trieben in den Torso, wie in lockere Erde. Rudolfs linke Hand war tief in der Bauchdecke versenkt. Dort erstreckte sich ein kleiner Teich aus flüssig gewordener Haut. Dicke Schweißtropfen flossen an Rudolf herab, nicht chaotisch, sondern in geordneten Bahnen, wie auf einer Straße. Rudolf war kaum noch in der Lage, seinem Gehirn einen klaren Gedanken abzuringen, und doch glaubte er sich daran zu erinnern, dass er seine Existenz nicht immer in diesem Zustand verbrachte hatte, sondern einmal eine eigene Persönlichkeit besaß, fähig diesem Leib zu befehlen.

Wie man seine eigene Gattung nennt, wusste er nur noch in lichteren Momenten. “Es lebt!” dachte er in solchen Momenten. “Nein! Ich lebe! Ich habe noch nie so sehr gelebt!”
Dabei zeigte das klaffende Maul so etwas wie ein Lächeln. Es lächelte jetzt von selbst. Ohne Rudolf. Jede Zelle hatte ein intelligentes Eigenleben entwickelt und veränderte den Leib nach Belieben. Ein gewaltiger Stadtbau hatte begonnen. Das Bewusstsein das die Fleischstadt bis vor kurzem noch befehligt hatte, löste sich auf, wurde wie ein lästiger Untermieter vertrieben. Von Rudolf, dem Mann blieb bald nichts mehr übrig. Das Letzte, das der Mann dachte, bevor er endgültig zu einer alptraumhaften Behausung für sich selbst mutierte: ‚Der Arzt wird mir alles erklären. – Morgen!‘

Überarbeitet Sagenhorn Poing, Januar 2023 / Erstfassung Sagenhorn München, 2006

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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