2014 / FSK 0 / 103 Minuten
Studio Ghibli ist bekannt für hochwertige Animes. Seit Prinzessin Mononoke, aber spätestens seit Chihiros Reise ins Zauberland ist das japanische Zeichentrickfilmstudio, deren Gründer schon vorher an Produktionen beteiligt waren, die bis zu Das letzte Einhorn zurückreichen, auch bei uns ein Begriff.
Meine Gedanken zu Chihiro und Mononoke werde ich in späteren Rezensionen ausführen.
Hier geht es um eine weniger bekannte –, aber um eine, in meinen Augen, zu Herzen gehende Geschichte, – also, um eine weitere Perle des Anime-Films: Erinnerungen an Marnie.
Handlung
Die in sich zurückgezogene und vom Selbsthass gezeichnete Anna wird über den Sommer zu Verwandten geschickt, in eine beschauliche Gegend, im Norden von Hokkaido. Dort soll sich das 12-jährige Mädchen erholen und sich von Ihren Selbstzweifeln kurieren.
Schon im frühen Alter hat Anna ihre Eltern verloren. Für eine Weile wuchs sie bei ihrer Großmutter auf, bis auch diese plötzlich verstarb. Anna fühlt sich in Sich gelassen. Trotzdem hat sie ihre Fröhlichkeit bewahrt, bis zu dem Punkt als sie Unterlagen entdeckte, die aufzeigen, dass Ihre Pflegemutter monatliches Geld für die Vormundschaft bekommt. Seitdem hinterfragt das jetzt stillgewordene Mädchen ihren Wert.
Interesse an Freundschaften oder zwischenmenschlicher Nähe hat sie nichtmehr, auch wenn das gutherzige Ehepaar, bei dem sie den Sommer verbringen soll, ihr gegenüber sehr verständnisvoll ist.
Stattdessen möchte sie mit Malblock und Stiften gerüstet, die neue Umgebung erkunden.
Dabei begegnet Anna einem seltsamen, blonden Mädchen in ihrem Alter, das in einer rustikalen, herrschaftlichen Villa wohnt. Das Mädchen heißt Marnie, und wie Anna scheint sie weder richtige Freunde noch Vertraute zu haben. Da Anna vieles von Marnie in sich selbst wiederentdeckt, freundet sie sich mit Marnie an, hält sie aber vor ihren Verwandten geheim.
Gemeinsam verbringen Anna und Marnie eine unbeschwerte Zeit. Sie unternehmen Bootsauflüge, gehen Pilze sammeln, oder Anna ist bei Marnie zu Gast in der Villa, wo sie auch Marnies Eltern kennenlernt.
Doch eines Tages ist Marnie plötzlich verschwunden, – die Villa scheint verlassen worden zu sein. Eine Woche nach Marnies Verschwinden, muss Anna zudem feststellen, dass eine fremde Familie in die Villa zieht. Denn die Villa, Marnies Zuhause, steht bereits seit vielen Jahren leer.
Wie ist das möglich? Ist das blonde Mädchen nur ein Geist gewesen? Jetzt muss Anna mehr über Marnie erfahren. Sie muss wissen, welches Geheimnis hinter ihrer neuen Freundin steckt…
Der Film hat zwar schon knapp 10 Jahre auf dem Buckel, ist aber für Studio Ghibli-Verhältnisse noch relativ neu. Wenn man mit Nausicaä aus dem Tal der Winde beginnen möchte (1), ist Erinnerungen an Marnie der 22. Film von Studio Ghibli. Nur Die rote Schildkröte und der verunglückte 3D-Animationsfilm Aya und die Hexe sind aktueller.
In der Regel steckt das Zeichentrickfilmstudio viel Zeit und Liebe in seine Projekte, was man den Filmen auch ansieht. Gerade hier fällt die unglaubliche Detailflut in den Zeichnungen auf, z.B. wenn Anna zum ersten Mal das Haus ihrer Verwandten Kiyomasa und Setsu Ooiwa betritt.
Es lohnt sich, die liebevolle Ausarbeitung der Inneneinrichtung des Hauses näher zu betrachten. Überall glotzen kleine Kitsch-Figürchen, überwiegend Eulen, auf die Bewohner. Körbe, Scheren, Mäntel und Hüte hängen an den Wänden, Regenschirme warten auf ihren Einsatz, ebenso Gartengeräte, die in einer der Ecke lagern. Schlüssel hängen an kleinen Regalen, auf denen wiederum Pflanzen, Eulenfiguren und Bilder abgestellt sind.
Und das ist nur ein Teil des Hauseingangsbereiches. Jeder Raum ist mit so unglaublich vielen Details ausgestattet, dass man der Ansicht erliegt, die Trickfilmkulisse sei einer realen Behausung entlehnt.
Zwischen Kimono und Abendkleid – Ein Anime, der Kulturen verbindet.
Es ist, als ob man mit den vielen Details, die Geschichte ehren wollte, denn dazu passend ist Erinnerungen an Marnie tiefgründig und durchdacht. Die Geschichte entsprang der Feder der englischen Kinder- und Jugendbuchautorin Joan G. Robinson. Ihr 1967 verlegter Roman When Marnie was there war in Japan ein großer Erfolg, und wurde 1969 auch auf Deutsch verlegt, unter dem Titel Damals mit Marnie. Warum sich bisher kein deutscher Verlag für eine Neuauflage gefunden hat, und wir nur die englische Fassung des Buches kaufen können, ist mir ein absolutes Rätsel.
Der Film verbindet beide Kulturen, die Englische und die Japanische, miteinander. Die ursprünglichen Namen der beiden Mädchen, Anna und Marnie, bleiben erhalten, während alle anderen Figuren japanische Namen tragen.
Die Villa, in der Marnie wohnt, erinnert an den alten englischen Stil, demgegenüber steht die kleine Stadt mit den japanischen Häusern.
Zu Annas Verdruss werden auch Feste gefeiert (Anna mag keine Feste). Einmal das Tabanata-Festival, das japanische Sternenfest, das auf eine uralte japanische Legende zurückgeht, und dessen Tradition, Wünsche an einen Baum (bzw. Bambus) zu hängen, auch in Europa immer mehr Bekanntheit erlangt.
Zum anderen wird Anna von Marnie auf den privaten Empfang ihrer Eltern geschleift, der stark den Eindruck erweckt, als handle es sich um eine Zusammenkunft der englischen Aristokratie.
Trug Anna während des Festivals noch einen eleganten Kimono, wird sie während des Empfangs in die arm wirkende Verkleidung eines Blumenmädchens gesteckt, während Marnie in einem prächtigen Ballkleid erstrahlt. Es ist, als befände man sich tatsächlich in einer anderen Welt, wenn Anna Marnie besucht.
Wenn der Damm bricht
Doch hinter Marnies prächtigen Ballkleid verbirgt sich ein trauriges Geheimnis um aufgestaute, nicht verarbeitete Gefühle. Sowohl Marnie, als auch Anna, müssen prägende Ereignisse und persönliche Verluste aufarbeiten.
So ist der Höhepunkt des Films, das losbrechende Unwetter über einem verfallenen Getreidesilo, auch eine Allegorie auf zurückgehaltene Gefühle, die nun unkontrolliert hervorbrechen.
Ab diesem Moment werden alle Puzzlestücke der Geschichte langsam zusammengeführt. Es ist nicht verkehrt, vorsichtshalber ein paar Taschentücher bereit zu legen. Denn selbst bei mir alten Haudegen, verschwammen einige Bilder, aufgrund wässriger Augen, wenn es an die Auflösung von Marnies Geschichte geht. Zu diesem Zeitpunkt ist die Auflösung nicht mehr überraschend, aber trotzdem sehr emotional.
Fazit
Erinnerungen an Marnie erzählt von ‚kleinen‘ Menschen. Das Abenteuer in dieser zarten Geschichte ist die Suche nach sich selbst, – nach der eigenen Identität, die tatsächlich schon in jungen Jahren beginnen kann, aber unter Umständen bis ins hohe Alter andauert. Den Kunstkniff, das kurzweilig und gefühlvoll in Szene zu setzten, beherrscht Studio Ghibli.
Für Liebhaber von ruhigen Geschichten und alle, die nicht immer John Wick, Captain Marvel oder Luke Skywalker brauchen, um sich gut unterhalten zu lassen.
Erinnerungen an Marnie ist auf DVD und Blu-Ray erhältlich oder kann auf Netflix gestreamt werden.
Fußnote
(1) Dieser Film wurde erstellt, noch vor Studio Ghibli-Zeiten, ist aber vom bekannten Hayao Miyazaki. Erst durch den Erfolg dieses Films konnte das Studio gegründet werden
Bildquelle: © LEONINE Studios