Genre: Science-Fiction, Mystery – Geeignet ab 12 Jahren
In einer der vielen Nächte, in denen ich schlaflos auf dem Rücken liegend, in meinem Bett sinnierte, erhielt ich Besuch vom Lieben Gott.
Nichts hatte auf diesen hohen Gast hingedeutet. Nur der Vollmond strahlte ungewöhnlich hell, als wollte er der Dunkelheit ihre Geheimnisse entlocken. Er schien durch das unverkleidete Fenster und beleuchtete die sterilen Wände meines Zimmers. Selbst der kleinen Spinne, die an der hinteren Ecke über ihr Netz krabbelte, gelang es nicht, sich vor meinem Blick zu verbergen. Die Hände zwischen Hinterkopf und Kissen geschoben, beobachtete ich, wie die kleine Weberin einen unvorsichtigen Falter liebevoll umgarnte.
„Noch so geschäftig, um diese Zeit, Madame?“ fragte ich sie. Natürlich gab mir die Spinne keine Antwort, aber ich unterhielt mich gerne, mit jedem Getier, das mich in meiner spartanisch eingerichteten Behausung besuchte, und sei es noch so klein. Den Menschen in meinem Umfeld konnte ich nur wenig abgewinnen. Wenn möglich mied ich ihre Gegenwart. Lediglich Richard, mein Bruder, bildete eine Ausnahme.
Indessen hatte die Spinne ihre Mahlzeit verzehrbereit eingewoben. Mir fiel auf, wie schön ihr großer Fadenbau im kalten Licht des Mondes strahlte. Als hätte man silbriges Lametta zwischen Decke und Wände geflochten. Ich bewunderte gerade die zart aneinander geknüpften, dünnen Stränge, als der erwähnte Besuch plötzlich, in Gestalt eines Fuchses, vor mir erschien.
„Guten Abend“, entbot sich der Liebe Gott.
Zumindest vermutete ich, es sei der Liebe Gott, denn welcher Fuchs beherrscht schon unsere Sprache, noch dazu akzentfrei. Es war ein sehr schön anzusehender Fuchs, im rotbraun glänzendem Pelzgewand, mit spitzen, langen Ohren und einen buschigen Schwanz, der elegant um den schmalen Fuchskörper herumschlingerte. Der Fuchs trapste zum einzigen Stuhl, der sich in meiner Stube befand und schwang sich mit einem Satz darauf. Dann besah er mich mit seinen dunklen wachsamen Augen.
„Guten Abend, habe ich gesagt“, bemerkte der Fuchs. „Erwidern Menschen einen höflichen Gruß nicht mehr?“
„Verzeihen Sie, Herr Fuchs. Ich war für den Moment nur sehr erstaunt. Sie müssen wissen, einen sprechenden Fuchs trifft man hier sehr selten. – Auch ich wünsche einen schönen Abend.“ Ich hielt es für ratsam, bei der Anrede Herr Fuchs zu bleiben. Hätte der Liebe Gott gewollt, dass ich ihn Lieber Gott tituliere, hätte er sich sicher nicht in einen Fuchs verwandelt.
„Darf ich mich vorstellen?” fragte ich schüchtern. „Ich heiße …”
„Ich weiß, wer du bist. Ich bin nicht gekommen, weil ich dich kennen lernen möchte. Ich bin gekommen, eben, weil ich dich kenne!”
„Sie kennen mich? – Natürlich kennen Sie mich! Doch sagen Sie, was kann ich für Sie tun?“
Darauf schüttelte der Fuchs nur seinen spitzen Kopf. „Frage lieber, was ich für dich tun kann. Es ist nämlich so, dass ich hin und wieder – wenn mir danach ist – bei einem Menschen vorbeischaue, den ich gut leiden kann, und ihm eine Frage beantworte. Denn ihr Menschen seid ja voller Fragen.”
„Sie wollen mir eine Frage beantworten? Ich fühle mich sehr geehrt, lieber Herr Fuchs. Aber mich beschäftigt zurzeit nur wenig. Welche Frage sollte ich da stellen?”
„Ist das schon deine Frage?“ Der Fuchs blinzelte mich listig an.
„Nein, nein! Es ist nur schwer den erloschenen Wissensdrang hurtig anzuheizen, wenn man auf so etwas nicht vorbereitet ist.”
„Dann überlege, welches Arkanum du zu entschlüsseln begehrst.”
Ich machte ein angestrengtes Gesicht. Eine Frage, eine Frage! Ich musste mir rasch etwas überlegen, denn eine solche Gelegenheit ergibt sich sicher nicht so schnell wieder. Eine Frage – Ja!
„Das ist es!“ rief ich glücklich. „Nun! Hier meine Frage: Ich möchte wissen, was sich hinter dem Universum befindet!“
Da weiteten sich die Augen des Fuchses, und er verzog sein Maul. „Oje!“ klagte der Fuchs. „Ausgerechnet das willst du wissen? – Vielleicht liegt ja auch gar nichts hinter dem Universum. Hast du darüber schon mal nachgedacht. Wenn dem so wäre, ist deine Frage beinahe verschwendet.“
„Doch, doch! Es muss etwas dahinter sein! Ich bin zwar kein Kenner auf diesem Gebiet, aber soviel ist mir klar: Ein räumliches Universum kann nur existieren, wenn es in etwas Räumlichem eingebettet ist, – in etwas, das Längen, Breiten und Tiefen besitzt. Nichts kann sich in Nichts ausdehnen, nicht einmal so etwas Großes wie das Universum“, erklärte ich schlau. „Aber es ist keine Schande, wenn Sie mir die Frage nicht beantworten können.“
Der Fuchs wiegte zögerlich sein Haupt. „Ich kann dir freilich eine Antwort geben, aber ich bin mir nicht sicher, ob sie dir gefällt. Denn wisse: Manche Geheimnisse dringen besser nicht an der Menschen Ohr! Wenn ich deinen Wunsch erfülle, wird sich dein Weltbild, – ja, dein ganzer Verstand völlig verändern. Denke dir lieber eine andere Frage aus.“
Ich aber blieb stur. „Nein! Jetzt haben Sie mich erst recht neugierig gemacht. Keine Sorge! Ich verkrafte die Wahrheit schon.“
Da seufzte der Fuchs. „Wie du möchtest. Trotzdem wäre mir lieber gewesen, du hättest um eine andere Erkenntnis gebeten.“
Fast begann ich meine Frage zu bereuen, denn der beunruhigte Ton, der in seinen Worten mitschwang, jagte mir einen erheblichen Schrecken ein. Zu spät! Ehe ich wusste was geschah, verwischte die Stube vor meinen Augen, als würde sie ein nasser Mopp von meinem Sichtfeld putzen.
„Allerdings kann ich die Antwort nicht in Worte fassen“, hörte ich den Fuchs noch aus der Ferne. „Ich werde es dir zeigen müssen. Aber vergiss nicht: Ich habe dich gewarnt!“ Seine Stimme wurde leiser und leiser, verlor sich zu einem Wispern, bis sie irgendwo im Nirgendwo verwehte.
Im selben Augenblick befand ich mich schon inmitten allumfassender Weiten. Mein Geist hatte sich von der Erde gelöst und schwebte an den Planeten unseres Sonnensystems vorbei. Ich bestaunte die riesigen Schluchten des Mars, ich schlitterte über Saturns Ringe und ließ mich von Jupiters orkangestaltetem Auge dabei beobachten, wie ich tiefer in den stillen Raum vordrang.
Es war ein erhebendes und beglückendes Gefühl, so schwerelos durchs All zu schweben. Mir kam es vor, als hätte ich mein menschliches Dasein hinter mir gelassen. Ich sah an mir herab und bemerkte, dass sich mein Leib aufgelöst hatte, zugleich schien mein Geist ins Unermessliche zu wachsen. Ein brennender roter Hypergigant, tausendfach größer als unsere Sonne, sah in meinen galaktischen Augen nur einem Kerzenflämmchen gleich. Planetare Nebel, dereinst aus sterbenden Sternen entstanden und über viele Lichtjahre gedehnt, erschienen mir, wie feine bunte Seidenwolken, in denen ein Gewittersturm tobte.
Ich wuchs und wuchs und verabschiedete mich von unserer Milchstraße, deren Spiralarme mich für einen kurzen Augenblick verzweifelt zu halten versuchten. Ich entschlüpfte den mächtigen Tentakeln, gebildet aus Sternen, Gasen und Staub, und schon bald war es mir möglich über ganze Galaxien hinwegzublicken, die wie schillernde Blumen durch die schwarze Schwerelosigkeit trieben. Auch die Galaxien schienen zu schrumpfen, bis sie nur noch einem entfernten Feuerwerk gleich sahen, und meine Blicke drangen weiter in die Tiefen vor. Ich hoffte, dass mich das Licht der Sterne im Zentrum des Kosmos erreichte. Hell und strahlend! Abgefeuert vor Milliarden von Jahren. Leuchtend in tausend mir unbekannten Farben, so stellte ich es mir vor.
Doch da war nichts! Stattdessen verschwammen einzelne Galaxien und Galaxienhaufen, bestehend aus Myriaden Galaxien, zu feinen, hellen Strängen, verschmolzen zu einem weißlichen Fluss, vereinten sich zu kosmischen Adern und Venen, in denen das Licht wie Blutkörperchen reiste.
Es geschah schnell und unerwartet! Etwas zerrte an mir, riss mich mit unglaublicher Geschwindigkeit weiter. Gleißende Blitze durchzuckten die Dunkelheit zwischen den Himmelskörpern und brannten in meinen geisterhaften Augen. Das All begann sich um mich herum zu drehen. Für den Sekundenbruchteil, in dem es blitzte, erkannte verschwommen, wie unruhig zitternde Moleküle an mir vorüber zogen. Die Grenze zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos zersplitterte in interdimensionale Scherben und katapultierte die Urmassen wie Kanonenkugeln in unsere Welt. Ich versuchte zu schreien …
Dann! Alles vorbei. Als mein Sichtfeld sich klärte, stand ich wieder in meinem Zimmer. Ich erkannte mein Bett mit dem vergitterten Gestell und meinen Stuhl, auf dem das allwissende Wesen in der Gestalt eines Fuchses Platz genommen hatte, und an der oberen Ecke lauerte nach wie vor die Spinne in ihrem Netz. Ich rang mit meiner Enttäuschung. Alles beim Alten! Alles? Nein!
Ich suchte meine Hände, versuchte an mir herabzublicken. Mein Körper! Er war immer noch verschwunden.
‚Aber, wenn mein Körper noch auf der Erde ist, dann ist das HIER nicht mein Zuhause!’ dachte ich entsetzt. Aber sogleich erfasste ich die schreckliche Wahrheit: ‚Falsch! Dies ist der Raum, in dem du unzählige schlaflose Nächte verbracht hast. Derselbe Raum! Dein Raum!’
Ich konzentrierte mich, zuerst unbewusst, auf das Netz der Spinne. Bei näherer Betrachtung schien es zu glühen. Ich schwebte heran und erkannte mit einem Blick, so scharf, dass ich einzelne Atome hätte zählen können, winzige leuchtende Kugeln, die miteinander verhaftet, das seidene Spinnennetz bildeten. Ich schärfte meinen Blick weiter. Das Leuchten entsprang winzig kleinen Punkten, in denen wieder funkelnde Punkte eingebettet waren. Einer dieser kleinsten Punkte erschien mir, von meiner Reise durch unseren Kosmos, merkwürdig vertraut: Die Milchstraße.
Das kann nicht sein! Unser gewaltiges Universum nur der verschwindend geringe Bruchteil eines kleinen Spinnennetzes, bestehend aus unzähligen Kosmen?
Mein Leugnen half mir nicht weiter. Ich musste mich mit der Tatsache vertraut machen, dass ich mich jenseits alles Vorstellbaren befand, in einem Gigaraum, dessen Größe jeder von Menschen erdachten Maßeinheit spottete.
Mein eigenes Zimmer, dieses Staubkorn im Universum, beherbergte das Universum zugleich. Ich schauderte.
‚Unsinn! Der Kosmos ist viele Milliarden Jahre alt. Dieses Netz aber ist erst vor wenigen Wochen entstanden. – Moment! Was ergibt ‚wenige Wochen’ nach kosmischer Zeit? Kann es sein, dass im Gigaraum ganze Äonen wie Stunden verstreichen?’
Meine Gedanken rasten und verstrickten sich im Labyrinth wirrer Theorien: ‚Wollte ich zum Beispiel das Netz zerstören, hätte ich dies in einem winzigen Augenblick vollbracht. Doch welche Zeitspanne würde vergehen, bis sich mein Handeln auf den Kosmos auswirkt? Schließlich ist unser Kosmos ein Teil des Netzes. Mit dieser Tat würde ich nicht nur den Kosmos, sondern auch den Gigaraum vernichten, da mein Zimmer, also der Gigaraum selbst, sich innerhalb des Kosmos befindet – aber der Gigaraum beherbergt das Netz, das den Kosmos beinhaltet, und kann nicht zerstört werden, nur weil ich etwas innerhalb des Gigaraumes zerstöre…
Und die Spinne? Ist nicht der Fuchs, also Gott unser Schöpfer, sondern sie? Wurde auch Gott von ihr erschaffen? Eine kleine Spinne unser aller Mutter, und sich dessen noch nicht einmal bewusst? Wurden wir nur erschaffen, um der Zerstörung zu dienen? Wurden wir, also das Netz, nur erschaffen, um arglosen Insekten den Tod zu bringen? Insekten denen viele Menschen nur eine geringe Bedeutung beimessen, und doch der Grund unserer Existenz?’
Der Fuchs hatte mich zu Recht gemahnt. Meine Gedanken entglitten. Vor meinen Augen tanzten schwarze Flecken, bis mich eine erlösende Ohnmacht umfing.
Als ich das Bewusstsein wieder erlangte, kauerte ich auf einem Stuhl. Mein Geist war in meinen steifen, schmerzenden Körper zurück geglitten. Allerdings befand ich mich nicht mehr in dem Zimmer, von dem aus ich die sonderbare Reise angetreten hatte. Grelles, künstliches Licht strömte von der Decke. Die Wände waren mit weißen Fliesen bedeckt, der Boden machte einen keimfrei sauberen Eindruck. Ich vernahm Stimmen. Jemand unterhielt sich über mich.
„… Verfassung ihres Bruders sehr Besorgnis erregend. Seine Wahnvorstellungen gewinnen in letzter Zeit die Oberhand.“
„Wie lange befindet er sich schon in diesem desolaten Zustand, Doktor Sinoster?”
„In der Nacht auf letzten Dienstag hat es angefangen.“
Jetzt schlenderten die beiden in mein Sichtfeld. Sie blieben vor mir stehen und betrachteten mich mit besorgten Mienen.
„Er isst, schläft, wandelt herum, aber trotzdem scheint es, als wäre er an einem weit entfernten Ort. Ich glaube nicht, dass er Sie erkennt.“
Doktor Sinoster hatte unrecht. Ich erkannte meinen Bruder Richard. Aber wer, bei allen Heiligen, ist Doktor Sinoster?
„Glauben Sie, er wird wieder gesund?“ fragte Richard bedrückt.
„Schwer zu sagen…“
Was sprachen die Zwei für Unsinn? Glaubten sie etwa ich sei verrückt? Oh nein! Ich war nicht verrückt! Noch nie hatte ich eine klarere Vorstellung von dem, was uns umgibt.
‚Aber, wenn sie doch recht hatten? Ist der Gigaraum nur meinem Irrsinn entsprungen? Oder hat mich dessen Entdeckung irrsinnig gemacht’? Ich könnte es herausfinden, wenn ich nur auf meinem Zimmer wäre. Ich könnte das Netz zerstören und sehen was passiert.
Aber eines hatte ich vom Fuchs gelernt: Manche Dinge sollten besser ungeklärt bleiben.
Bildquelle: © Michael Sagenhorn