Genre: Märchen und Mythen – Geeignet für alle Altersgruppen
Ohne zu Stottern und Murren hatte ein kleines, weinrotes Auto der Marke Käfer, seine Besitzer an die entlegensten Orte des Landes getragen – und manchmal noch viel weiter.
Über all die Jahre war er sich dabei richtig stolz und wichtig vorgekommen, denn er hatte die Menschen immer gut nach Hause gebracht. Aber nun! Nun war das alles vorbei und vorüber. Der weinrote Käfer parkte unfreiwillig in einem entlegenen Straßengraben und rostete traurig vor sich hin.
Wie war er nur in diese kummervolle Lage geraten? Sein letzter Besitzer, ein lauter junger Mann, heizte mit ihm häufig über die Landstraße und führte bisweilen waghalsige Überholmanöver durch. Und genau da – hups – ist es passiert! Der kleine Käfer, nicht mehr in der Lage die steile Kurve sauber zu fahren, kam von der Straße ab und landete dort, wo er jetzt saß.
Der junge Mann fluchte und schimpfte. Dann telefonierte er mit seinem Smartphone und gab dem armen Wagen noch einen kräftigen Tritt. Das schmerzte den kleinen Käfer. Er konnte doch nichts für den Unfall. Etwas später raste ein Bekannter seines Besitzers daher, in einem arroganten Porsche. Der lachte den kleinen Käfer nur aus. Darauf waren sie alle davongebraust, und hatten ihn bis heute in der Wildnis zurückgelassen.
Viele Tage stand der kleine Käfer schon da und wurde von Tag zu Tag trauriger. Ich werde scheinbar gar nicht vermisst, überlegte er. Ich nütze den Menschen wohl nichts mehr. So dachte der kleine Käfer, bemitleidete sich fürchterlich, und weil er am Straßenrand nichts weiter zu tun hatte, beobachtete er die umhersurrenden Bienen.
Seltsam! So merkwürdige Bienen hatte der kleine Käfer noch nie erblickt. Sie sahen gar nicht wie Bienen aus. Jede glich eher einer winzigen Frau und besaß Flügel aus gewobener Luft, und ihr langes Haar strahlte wie die liebe Sonne. Im Grunde summten sie auch nicht, sondern schwatzten sich im hellen Tönen etwas zu. Das können doch gar keine Bienen sein, schlussfolgerte der kleine Käfer. Aber was wusste er schon. Er war ja nur ein Auto.
Nanu? Wo ist denn die Straße geblieben? Sie hat sich eben noch durch die Landschaft geschlängelt. Das kleine Auto beäugte mit großen, runden Scheinwerfern das hoch gewachsene Gras und die angrenzenden Bäume. Wie riesig die sind, staunte es. Die wachsen bestimmt bis zum Himmel hinauf. Und doch fragte sich der kleine Käfer, warum ihm die hölzernen Giganten nicht schon eher aufgefallen waren.
Indessen flogen weitere, heitere kleine Feen herbei und schwirrten um ihn herum. Einige huschten elegant durch den Spalt der geöffneten Tür und begutachteten interessiert seine plötzlich moosbezogenen Sitze. Eine machte es sich auf einer gelben Blume gemütlich, die seiner Rückbank entwuchs. Sie gähnte behaglich, kuschelte sich in ein Blütenblatt und schlief schon bald darauf ein. Der neue Wohnsitz schien den quirligen Fabelwesen sehr zu gefallen. Da lebte der kleine Käfer wieder auf und freute sich. Schien es doch jemanden zu geben, dem er, trotz seines Alters, noch von Nutzen sein konnte.
Sein Besitzer aber, der ihn so achtlos am Straßenrand liegen hat lassen, wunderte sich sehr. Denn als er endlich mit dem Abschleppdienst an die Unfallstelle zurückkam, war der kleine Käfer schon lange im Reich der Feen verschwunden.
Michael Sagenhorn 2022
Bildquelle: © Michael Sagenhorn