Michael Sagenhorn/ Mai 22, 2023/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genre: Horror – Geeignet ab 16 Jahren

© virtosmedia – 123rf.com #199788702

Ein prächtiger Sommertag neigt sich dem Ende zu, aber noch erhellt die Sonne Straßen und Wege, Häuser und Höfe. Diesjährig sind die meisten Sommertage so prächtig wie heute, – so prächtig, wie man es bei einem prächtigen Sommer erwarten darf. Viel Sonne und Hitze, wenig Regen – und der dann meist abends oder nachts, dafür in strömenden Schauern.

Der zartwürzige, süße Duft schattenspendender Linden, die hier eine verkehrsreiche Hauptstraße flankieren, vermischt sich mit den Abgasen der vorbeirasenden Autos. Lärmende Kinder spielen irgendwo Fußball, abseits des gefährlichen Verkehrs, dem Geschrei nach zu urteilen, in einen der vielen Hinterhöfe, die von Mehrfamilienhäusern und Mauern begrenzt werden.
Gehwege neben der Hauptstraße verzweigen sich in kleinere Seitenstraßen, Unterführungen oder Parks.
Der Park, der der Hauptstraße am nächsten liegt, wird ebenfalls von tollenden Kindern bevölkert. Man hört Hundegebell, und Kinderlachen, ein dumpfes ‚Puk‘, das von einem Ball herrührt, der von einem Fuß getreten worden war, und irgendwo kreischt missmutig ein Baby.
Drei quatschende Mädchen in T-Shirts und kurzen, engen Hosen, schlendern einen gewundenen Weg hinab, zu einem kleinen Bach. Sie ernten schmachtende Blicke von einer Horde Jungs im gleichen Alter, die neben einem Bolzplatz herumlungern.

Durchquert man den Park, Richtung einer kleinen Brücke, die über diesen Bach führt, erreicht man ein Café. Die Gäste sitzen draußen, auf billigen hellen Stühlen und unterhalten sich angeregt miteinander, oder – wenn man alleine ist – vertieft man sich auch gerne in das Smartphone.
Zwei schwitzende Geschäftsmänner, ihr Sako über die Schultern gehängt, huschen vorbei und unterhalten sich über die Entwicklung eines Programms. Dicht an ihnen prescht ein Radfahrer vorüber – vermutlich ein Kurier – was dem Radfahrer zornige Worte der aufgeschreckten Anzugträger einbringt.
Ein ganz normaler, prächtiger Sommertag in der Stadt also.

Und natürlich gibt es Eis in nur allen denkbaren Sorten. Diese Sorten kann man käuflich erwerben, beispielsweise nah dem oben erwähnten Café, an der Bachstraße, Ecke Waldweinstraße. Dort existiert diese Eisdiele. Freezy-In steht in roten Buchstaben über dem Eingang.

In den Sommermonaten ist das Freezy-In stets gut besucht. Dafür ist zum einen seine zentrale Lage verantwortlich, zum anderen schmeckt das Eis wirklich vorzüglich. Die Geschmacksknospen feiern ein Fest, während das Eis langsam auf der Zunge zergeht.

Doch als Jonas den Laden betritt, ist er der einzige Kunde. Nur Katherina steht hinter der langen Eistheke. In 32 Kühlaufsätzen lagern Eissorten in allen Farben. Gelangweilt starrt die Verkäuferin auf den großen TV-Schirm an der Wand. Nur halbherzig schenkt sie dem hereinkommenden Kunden ihre Aufmerksamkeit.
„Guten Abend“, grüßt der junge Medienpraktikant. „Ist nicht mehr viel los, um diese Zeit, was?“ Heute hatte er Überstunden eingelegt. Seine Uhr zeigt schon halb neun.
„Was darf es sein?“ Katherina sehnt sich scheinbar den Feierabend herbei.

Jonas hat sie noch nie freundlich erlebt, obwohl er zur warmen Zeit, an mindestens drei Wochentagen zwei Eiskugeln bestellt, um sich den Heimweg zu versüßen.
Jonas zuckt mit den Schultern. Ihre Ignoranz lässt ihn in kalt. Lieber studiert er die vielen Wannen mit den frostigen Süßspeisen. Nach welchem Eis gelüstet es ihm heute?
„Verdammt!“ Jonas bemerkt, dass seine Lieblingssorte fehlt. Ausgerechnet Blutige Kirsche ist vergriffen. Blutige Kirsche hatte er immer gewählt. Mal mit Schokoladeneis, mal mit Gerösteter-Sesam-Eis, mal mit Tiramisu oder mit andern Fruchtsorten. Er saugte immer mit Freuden daran und genoss es, wenn die Kirsche mit der zweiten Kugel verschmolz.
„Was ist?“ fragt Katherina ungeduldig.
Blutige Kirsche ist alle! – Schade! Ich liebe dieses Eis“.
Katherina seufzt einen Seufzer der besagt: Ich tue alles, damit du dich endlich verpisst, und ich den verdammten Laden schließen kann. „Ich glaube, hinten ist noch ein Rest“. Sie deutet auf die Tür zu einem Hinterzimmer.
„Wirklich? Klasse!“ Jonas’ Augen leuchten auf.
Die Eisverkäuferin schiebt sich ohne ein weiteres Wort an der Speiseeisvitrine vorbei und lässt Jonas im Laden stehen.

Katherina betritt einen gekachelten, fensterlosen Raum. Von der Decke leuchtet dumpfes, beinahe krank wirkendes Licht auf eine unwirkliche Szene. Sie vernimmt erstickte Klagelaute.
„Sei still!“ zischt sie. „Du hast es gefressen wie ein Schwein, und nun beschwerst du dich, weil ich Nachschub benötige? – Leute wie du dauern mich. Genießen ja, aber ihr wollt nicht das kleinste Opfer bringen. Und nun finde dich endlich damit ab!“
Ein leises Wimmern. Sie bedenkt den Urheber, einen Mann im mittleren Alter, mit verächtlichen Blicken. Der liegt, mit aufgerissenen Augen, regungslos auf einem schwarzen Förderband, das zu einer monströsen Apparatur hinführt. Die Apparatur selbst mutet, mit ihrer silbernen Verkleidung mehr futuristisch an. Ein riesiger, polierter Kasten mit abgerundeten Ecken. Katherina drückt auf die Knöpfe einer seitlich angebrachten Konsole. Darüber informiert ein Bildschirm über die abzurufenden Arbeits-Programme der Maschine. Mit einem leichten Surren setzt die Kühlung der Maschine ein, ihre Verkleidung beginnt zu vibrieren.


Der Kopf des Mannes beginnt heftig hin und her zu zucken. Das Förderband zeigt zu einer waagrecht ausgelegten Trommel, die nun zögernd, ja beinahe scheu ihren gläsernen Zugang öffnet. Darin kommt ein Rührwerk zum Vorschein, dessen Achse im Zentrum der Trommel befestigt war. Behäbig setzt sich das Band in Bewegung.
„Du weißt ja, was jetzt kommt“. Katherina erlaubt sich ein leichtes Lächeln, eher von sanfter Güte als gehässig.
Obwohl der Mann nicht mit Fesseln fixiert worden war, ist er nicht in der Lage das Förderband zu verlassen, selbst wenn er seine Beine noch gehabt hätte. Der Mann besteht nur noch aus einem geschorenen Torso mit kahlem Haupt. Seine blasse Haut glänzt, als wäre sie mit einer öligen Schicht eingerieben worden. Das, was von seinem Körper übrig ist, erscheint seltsam weich und gleicht mehr einer cremigen Masse.
Tatsächlich gab die Brust spielend leicht nach, als Katherina mit ihrem Finger die Konsistenz überprüfte. Eine leichte Delle blieb zurück, die Haut färbte sich sofort blutrot. Die menschliche Frucht versucht zu schreien, doch ihre Stimme ist schon fast verschwunden. Daher bringt sie wieder nur ein leises Wimmern zustande. Sie ist auch nicht mehr in der Lage ihren Mund zu öffnen. Das cremige, süßfruchtig duftende Teig-Ding wird ohnehin nur am Leben gehalten, damit es frisch verwertet werden kann. Dafür sorgen dünne Kanülen, die den Rücken der Frucht durchbohren.
Mit erbarmungsloser Präzision befördert das Band einen kleinen Teil der übrig gebliebenen Beinstümpfe in den Zylinder. Indessen klettert Katherina auf eine Staffelei, öffnet eine oben angebrachte Luke und gibt die Kirschmischung dazu.
Zuerst zeigt der Bildschirm an, dass das Programm ‚Pasteurisierung’ jetzt aktiv ist, um Keime abzutöten. Nach 30 Sekunden nimmt der Freezer seine Arbeit auf. Dem Zylinder wird unaufhaltsam sämtliche Wärme entzogen. Das Rührwerk rotiert und mischt, und die Frucht spürt, wie sie wieder einen Teil ihres Leibes einbüßt, – wie mehr und mehr Blut dem hungrigen Schlund der Apparatur zugeführt wird. Das Fruchtgemisch aus Kirsch und Blut gefriert an der Zylinderwand. Als Katherina sieht, dass sie genug produziert hat, schabt sie das Eis vom Rührwerk und füllt es in eine Wanne. Mit einem zufriedenen Gurgeln verstummt die Maschine. Katherina streichelt deren Verkleidung und berührt sie zärtlich mit den Lippen.
„Ich hoffe, du bist satt…für heute muss es genügen“, haucht sie zur Maschine, während das, was einmal ein Mensch gewesen ist, in seine Apathie zurücksinkt.

„Das hat ja gedauert!“ beschwert sich Jonas, als Katherina zurückkehrt. „Hast du das Eis frisch erlegt?“
Katherina beachtet den Sarkasmus nicht und stellt die Wanne in die Vitrine. „In der Waffel oder im Becher?“
„Wie immer in der Waffel“, seufzt Jonas. Sie würde ihn wohl nie wie einen Stammkunden behandeln. „Dazu noch eine Kugel Zitroneneis.“
Katherina füllt eine Waffel mit Zitrone und Blutkirsche und stellt das Eis in den Waffelhalter. „Macht 4,20 Euro!“
Jonas bezahlt, nimmt sein Eis und saugt eine Kugel zwischen den Lippen ein. „Lecker!“ murmelt er zufrieden. „Diese Blutige Kirsche. Da ist doch nicht nur Kirsche drin! Aber du wirst mir die Zutaten wohl nicht verraten, was?“
Da geschieht etwas, das Jonas nicht erwartet hat: Katherina lächelt ihn tatsächlich an, zum ersten Mal! „Eines Tages…“, prophezeit sie verheißungsvoll. „Eines Tages verrate ich dir die Zutaten ganz bestimmt!
Ich verrate es allen, die das Rezept wissen wollen. Bisher hat es noch jeder erfahren. – Wirklich jeder!“

***

Überarbeitet Michael Sagenhorn Poing, April 2023 / Erstfassung © Michael Sagenhorn München, 16.09.2009

Bildquelle: © virtosmedia, 123RF Free Images

Share this Post

Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

Hinterlasse einen Kommentar