Michael Sagenhorn/ April 17, 2023/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genre: Fantasy – Geeignet ab 12 Jahren

© Michael Sagenhorn 2007

Als die Eingangstür der Taverne Zum Kristallberg geöffnet wurde, wehte der eisige Wind des hohen Nordens in die Stube und verdrängte die beschauliche Wärme des Kaminfeuers, mit seinem ablehnend frostigen Atem. Er blies auch silbrig glitzernden Pulverschnee herein; der bedeckte in kürzester Zeit die Schwelle. Ein junger, knochiger Mann, trat schnell aus der Nacht in die schummerige Schänke, um die unwillkommene Kälte durch einen Tritt gegen die Türe auszuschließen. Er sah an sich herab und klopfte eine dicke Schneekruste von seinem Hirschfellmantel, stampfte auch seine Pelzstiefel fest gegen das Parkett, damit sich die Schneeschicht davon löste.
Dieses Ritual der Ankunft ist hier nicht ungewöhnlich, denn in den nördlichsten Breiten, dort wo das Kaiserreich der Menschen auf die Bergmassive der Dwarks (1) traf, zählt man selbst im Sommer meist nur Tage, die man eher als lau bezeichnen konnte, aber zur Winterzeit, die gerade herrschte, konnte es so kalt werden, dass einem die Gedanken auf der Zunge gefroren, sobald man sie in Worte zu kleiden versuchte.

Bibbernd schlich der Neuankömmling zu einem leeren Tisch in der Ecke. Allerdings musste er ohnehin nicht befürchten, zuviel Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Außer einem rotbäckigen, feisten Mann hinter dem Tresen, dem schon die meisten Haare abhandengekommen waren, einem langen Barden, der auf einem quer liegenden Bierfass gelangweilt auf seiner Leier zupfte, zwei grobschlächtigen, breitgebauten Gästen, sie stopften gerade gierig einen Rehkalbbraten in sich hinein, und einer hübsch anzusehenden, blonden Schankmaid, war in der Taverne niemand zugegen.

Kein Wunder. Das kleine Wirtshaus stand, jenseits bedeutender Handelsstraßen, mitten in der felsumkränzten Einsamkeit, nah an den Gewitterbergen gelegen, zwischen drei hohen Tannen, etwa eine Tagesreise zu Fuß von der nächstgelegenen Ansiedlung entfernt. Bei den meisten Gästen handelte es sich daher weniger um Ortsansässige, auch nicht um reisende Händler, sondern um Abenteurer, Dwarks und zwielichtige Gestalten, die jedoch den Gastfrieden der Taverne achteten. Selten gab es hier schlimme Raufereien, was auch daran lag, dass die meisten Gäste eine beschwerliche Tour hinter sich hatten, und sich einfach nur nach Stärkung oder einem Zimmer für die Nacht sehnten.

Vielleicht auch dieser Gast, hoffte der dicke Wirt Bruno Butterfass, und wackelte hinter dem Tresen hervor. Er konnte jedes zusätzliche Kupferstück, die er für eine Übernachtung bekam, gut brauchen. Als der Neuankömmling sich niedergelassen hatte, frage er höflich:
„Was darf es sein, Fremder? Wein, Braten, ein Bett für die Nacht?“
„Bitte bringt mir zuerst ein Glas heiße Milch!“ seufzte der neue Gast.
Einer der grobschlächtigen Hünen verschluckte sich und hustete ein Stück Rehkeule aus. Der Fremde wurde von beiden mit einem geringschätzigen Blick bedacht, doch Bruno stapfte sofort zurück und holte das gewünschte Getränk.

„Darf ich fragen, wer Ihr seid und was Ihr in dieser von den Göttern verlassenen Gegend treibt?“ wollte Bruno wissen, nachdem er die Milch serviert hatte.
Auf dem Gesicht des Fremden lag ein Ausdruck von Erschöpfung. Er wirkte reif für sein jugendliches Aussehen, als hätte er schon so manche nennenswerte Erfahrung gemacht.
„Ich bin Malister Minster, der Poet, guter Mann!“
Aus Richtung der Hünen erfolgte lautes Gelächter. „Ein Poet! Das hätte ich mir denken können, bei diesem schmächtigen Bürschchen.“
Malister ging nicht darauf ein. Nach einem Schluck heißer Milch zog er seinen Mantel aus und legte ihm neben sich. „Ich bin tiefer im Norden gewesen, in der Eiswindklamm. Dort wo sich Legenden mit der Wirklichkeit paaren, sind mir seltsame, und womöglich gefährliche Dinge begegnet.“
„Was denn? Ist dein Schreibfederchen im Tintenfass gefroren?“ lachte der zweite Barbar.
„Halt die Klappe, Ulf!“ rief Juladai, das Schankmädchen erbost. „Und lass unsere Gäste in Ruhe, sonst schläfst du heute Nacht im Stall.“
„Interessant!“ meinte der Barde. „Kolgimar ist mein Name“, stellte er sich vor und hüpfte von dem Bierfass. „Von der Eiswindklamm hört man tatsächlich allerlei bemerkenswerte Geschichten! Vielleicht kann ich eine spannende Weise aus eurem Erlebnis komponieren“.
„Ja bitte, Herr Malister! Erzählt uns, was Ihr erlebt habt“, forderte der Wirt seinen neuen Gast auf.
„Gern! Doch vorher möchte ich meinen Hunger stillen. Habt ihr eine warme Suppe und dazu ein Stück Brot?“

Bruno brachte ihm das Gewünschte, und nachdem Malister eine kräftige Speckbrühe geschlürft- und an einem zweiten Glas Milch genippt hatte, begann er mit seiner Geschichte. Neben Bruno saßen nun auch Juladai und Kolgimar bei ihm am Tisch. Draußen peitschte der Schnee gegen die Fenster.

„Die Einsamkeit sollte mich zu neuen Werken inspirieren“, fing Malister an zu erzählen. „Daher kam ich in eure entlegene Gegend, denn von verlassenen oder gar geheimen Pfaden wird Vielerorts berichtet. Ich folgte einen dieser verlassenen Pfade, bis hin zu den ersten Trieben des Berges Wotheim, ohne dass mir eine Menschen- oder Dwarkenseele begegnet wäre.
O herrliche Verlassenheit! Ich ließ das Alleinsein auf mich wirken; und tatsächlich fühlte ich mich berühmten, von mir gewürdigten, gleichgesinnten Geistern so nah wie nie zuvor.
Oft notierte ich meine Stimmung oder skizzierte die weiße Landschaft. In einer der Nächte entdeckte ich in der Hochebene die warmen Lichter eines Dorfes. Der verträumte Anblick inspirierte mich zu einem Reim. Und am Morgen danach beobachtete ich, wie eine Herde Rehe dicht an mir vorüberzog. Ein Kitz blickte mir in die Augen, und es war als hätten wir eine besondere Verbindung …“

„Komm endlich zur Sache, Schwätzer!“ rief Ulf und kaute an seiner Rehkeule.

Der Poet sah beleidigt hinüber. „Nun! Da Ihr so erwartungsvoll an meinen Lippen hängt, will ich ein paar Impressionen überspringen und zum wesentlichen Teil meiner Erzählung kommen:“

*

Als Malister die ersten Ausläufer des Berges Wotheim erreicht, steht die Mittagssonne schon strahlend hell am Himmel und versucht vergeblich der eiskalten Luft zu trotzen. Die Eisluft ist so klar, dass sich Malisters Blick vermeintlich endlos der Ferne entgegenstreckt. Das Umland scheint zum Greifen nah, obwohl man viele Wegstunden benötigen würde, um ein angepeiltes Ziel zu erreichen.

Malister erkennt plötzlich etwas, das nicht in die unberührte Schneelandschaft passt. Neugierig trabt er darauf zu. Nach einem langen Marsch werden die Umrisse klarer, und immer deutlicher zeichnet sich der fremdartige Punkt ab: Ein Bauwerk?

Der Poet erhöht das Tempo, angetrieben von seiner wachsenden Neugierde. Bei näherem Hinsehen erkennt er, dass es sich um eine Einkehr handelt. Aber in welchem exotischen Baustil wurde diese Einkehr konstruiert? Das Gebäude ist von einer fremdartigen Eleganz, wie sie weder bei Menschen noch bei Dwarks zu finden ist.

Ein schlanker Balkon mit zartem Holzgeländer ragt an der rechten Seite eines schmal gestalteten Ziergiebelhauses hervor. Eine filigran gezimmerte, hohe Dachgaube an der Längsseite, starrt den sich nähernden Wanderer mit dem dunklen Auge des dahinterliegenden unbeleuchteten Zimmers an. Dazu passend bildete sich im Erdgeschoß, durch den Schatten des überhängenden Daches ein bedrohliches Maul, dessen mit Schnitzereien übersäten Terrassenstützpfeiler wie schlanke Zähne wirken.

Hinter dem Schatten erkennt Malister ein verwittertes, aber festes Mauerwerk aus groben, rauen Steinen. Malister überlegt, wer der Baumeister dieses Gebäudes ist. Womöglich ein Handwerker, der sich auch als Künstler versteht? Der Wirt dieser Einkehr weiß vielleicht mehr.
Der Schnee hat zwar die runde Terrasse begraben, doch das grüne Dach weist keine Spur der weißen Pracht auf. Auch der Eingang und die Fenster sind vom Schnee befreit. Es scheint als hätte die kalte Natur keine Macht über diesen Ort.

Nach einer Weile ist Malister endlich am Ziel. Er freut sich auf ein warmes Zimmer, ein gutes Mahl und vielleicht auf ein paar frohe Lieder. Doch schnell stellt sich Ernüchterung ein. Als der Poet den knirschenden Schnee auf der Terrasse zertritt, wird ihm sofort bewusst, dass die Einkehr längst verlassen worden war. Bei genauerer Betrachtung der Gegend fallen ihm auch Umrisse von weiteren Häusern auf, die sicher unter der Schneedecke hervorwölben.
„Unglaublich!“ flüstert Malister. „Diese Gebäude müssen schon seit Jahrhunderten leer stehen… Aber diese Einkehr! Sie steht noch so vollkommen da, wie am Tag ihrer Fertigstellung.“

Malister macht einen Schritt durch die offenstehende Tür. Da packt ihn eine nie zuvor gekannte Einsamkeit, mit Klauen, so kalt, wie die Temperatur in dem Gastraum. Die Kälte bohrt sich wie ein Pfeil in sein Herz, und ihm ist, als hätte sich der Schmerz, der unbekannten Bewohner dieses Dorfes mit seinem Geist verbunden. ‚Diese Leute haben bei ihrem Aufbruch von diesem liebgewonnenen Ort, einen Abschiedsschmerz erlitten, so groß, dass ein Teil dieses Schmerzes in den Mauern zurückgeblieben ist‘, erkennt Malister. Doch woher diese Erkenntnis kommt, kann der Poet sich nicht erklären.

Sofort fällt sein Blick auf ein ungewöhnlich gut erhaltenes Bild an der seitlichen linken Wand, gleich rechts neben der Feuerstelle. Malisters Augen vergrößern sich. Selbst gemalt erregt der Anblick seine Sinne. Das Bild zeigt eine junge Frau mit blonden, zu einem Zopf geflochtenen Haaren. Ihr filigranes Gesicht mit hellem, samtigem Teint birgt eine schmalgerade, unaufdringliche Nase, volle Lippen wurden in einem dezenten Rotton gemalt, doch beim Anblick ihrer Augen schlägt Malisters Herz unweigerlich schneller. Mandelförmig, groß und dunkelgrün leuchtend, können diese Augen den Atem der Betrachter rauben. Malister kennt keinen Smaragd der heller leuchtet, und er hatte schon die Smaragdkette der Kaiserin gesehen.

„Wer bist du? Und zu welchem Volk gehörst du?“ fragt Malister die junge Frau auf dem Bild.
Tatsächlich ist es dem Poeten nicht möglich das Mädchen einem Volk zuzuordnen. Zu den stämmigen Dwarks gehörte sie auf keinen Fall. Aber ein Mensch war sie auch nicht. Das verraten allein schon ihre nach oben zugespitzten Ohren, – mit auffallenden prächtigen Ohrringen behangen, an denen je drei spitze, bernsteinfarbene Juwelen wie Eiszapfen herunterhängen.
Zudem sieht das Mädchen zu grazil, ja beinahe zu edel für einen Menschen aus. Eine gewisse Ähnlichkeit ist unbestreitbar, aber trotzdem wirkt ein Mensch dagegen wie die plumpe Nachahmung dieses Volkes, gefertigt von ungelenker Hand.

Malister kennt eigentlich nur ein Volk, dass von der Erscheinung her, annähernd gleich kommt: Die Schemmen.
Allein beim Gedanken an Schemmen sträuben sich Malister die Nackenhaare. Die Schemmen sehen tatsächlich für Menschenaugen fast engelsgleich aus, so zart wie ein Lufthauch, Männer und Frauen so schön, als wären sie den Kunstwerkstätten der Götter entsprungen, aber ihr Wesen ist dermaßen grausam, – ja bestialisch sogar, dass man nur mit leiser Stimme über sie spricht, und hofft nie einen von ihnen zu sehen.
Malister schüttelt den Kopf. „Nein!“ Das ist unmöglich. Alle Schemmen haben blass blaue Haut und wohnen im Süden. So weit oben im Norden haben sie Malisters Wissen nach noch nie gesiedelt.
Malister weiß zwar nicht, zu welchem Volk die junge Frau gehörte, aber er spürt deutlich, dass die Bewohner nicht freiwillig fortgezogen sind. „Etwas muss euch vertrieben haben“, sinnierte er. „Dwarks? Oger?“

Da kommt Malister plötzlich ein fürchterlicher Gedanke: Vielleicht ist das, was für die Vertreibung dieses Volkes verantwortlich ist, noch hier?
„Nein!“ besinnt er sich. „Sicher nicht, nach all der Zeit“.
Vorsichtig tritt Malister weiter in die Stube hinein. Das Holz knarrt leise, hält aber seinem Gewicht mühelos stand. Ein leichter Wind kommt auf. Das Knarren und Heulen drückt Malisters Stimmung weiter nach unten. Er zittert, ist sich aber nicht sicher, ob das nur von der Kälte herrührt.
Durch verschmierte Fenstergläser fallen Sonnenstrahlen gebündelt herein, beleuchten drei grazile, ovale Tische, leicht verschlissen, aber das Holz war noch heil. Gemütlich aussehende Sitzbänke und Stühle sind in der Stube verteilt, wobei die meisten Stühle über dem Boden liegend verstreut sind. Ein Deckenleuchter war heruntergefallen und liegt in der Mitte der Stube. Scheinbar hatte es auch einmal Wandkerzenhalter gegeben. Jedoch blieben von denen nur rostige Stellen an der Wand.

Das geschwungene, weiß gestrichene Gebälk weist hingegen noch unzählige sehr gut erhaltene Schnitzereien auf. Malister verliert sich beinahe in den Arbeiten. Staunend betrachtet er die detailreichen Reliefs der Stützbalken, bis ihm sein Gefühl mahnt auf die Zeit zu achten.
Ein Blick aus dem Fenster verrät ihm, dass sie Sonne den Berggipfeln schon sehr nah gekommen ist. Der Wind hat zugenommen und Wolken formten sich in den Trichtern zwischen den Gipfeln.

„Ach, Übel! Mir schwant, böses Wetter kommt auf! Und der Tag geht auch zuneige.“
Soll er die Nacht in der Einkehr verbringen? Der Poet hätte das sicher für eine gute Idee gehalten, würde er sich nicht von Augenblick zu Augenblick unbehaglicher fühlen. Diese grässliche Einsamkeit nagt wie ein Raubtier in seinem Inneren! Aus dieser Einsamkeit gewinnt man keine Poesie, denn sie zeugt von dem quälenden Abschiedsschmerz des vergangenen Volkes, – von dem Heulen und Wehklagen des Vergessenwerdens, – von der Trauer die Heimat hinter sich lassen zu müssen.
„Schnell! Ein heiterer Reim wird meine Gedanken von der Schwermut ablenken.“
Doch er fühlt noch etwas anderes, ganz so als würde ihm etwas auflauern, – ihn scheußlich grinsend und geifernd verhöhnen.

„O schöne Maid, O Feenwesen,
wie hast du’s mir angetan.
Bei deinem Lächeln werd’ ich genesen,
vergangen ist mein schlimmer Gram,
wie wohl und warm wird mir, bei deinem Gesang.“

Eine unsichtbare Gefahr scheint sich zu nähern, während sie versucht, sich seinem Geist zu bemächtigen. Die Dielen ächzen laut, als wollten sie sein Gedicht mit Klagen begleiten. Oder verhöhnen sie ihn? Der Wind treibt die Kälte tief in seine Glieder.

„Beim Feuer …. beim Feuer tanzt du hell,
erstrahlest wie der Sonnenschein.
Ich kann nicht anders, frage schnell,
wann, O himmlisch‘ Maid wirst du die mein?

Tränen rinnen dem Poeten über die Wangen, obwohl er keine Trauer spürt. Oder doch? Trauert er um das vergangene Volk? Der Schmerz der unbekannten Verschwundenen durchströmt jeden Nerv.

Lass unsre Liebe über alle Grenzen tragen,
ob Fee, ob Mensch, das ist so gleich.
Zu den Sternen auf, mit unserem Himmelswagen,
Arm in Arm ich spür….
Es ist noch da!“

Malisters Gedicht erstirb mit einem Schreckensruf. Es IST noch da! Seine schlimme Ahnung wird zur Gewissheit, ohne dass er den Grund dafür nennen kann. Was immer die Einwohner des im Schnee versunkenen Dorfes vertrieben hatte, lauert noch immer auf ahnungslose Opfer. Vertrieben? Nein! Der Schmerz des Abschieds, den er fühlt, geht tiefer! Das ist nicht der Schmerz der Abreise. Es ist der Schmerz des Todes.

„Sie starben!“ Viele dieser spitzohrigen, filigranen Wesen fanden den Tod, bevor sie sich entschlossen hatten, ihre Heimat aufzugeben. Sie versuchten zu kämpfen, aber es war ihnen nicht möglich den Gegner auszumachen.

Unsichtbar, lautlos, ohne Erscheinungsbild kam das Monster über sie und labte sich an ihren Seelen. Das fremde Volk wurde zur Beute für einen Jäger, der nur Hunger kennt.
Malister sieht in seinem Geist das Schicksal der Fremden nur durch einen Schleier, der schemenhaft die Geschehnisse wieder gibt. Weniger durch Bilder, mehr durch Gefühle und Gedanken, denen es nicht vergönnt ist zu verblassen, obwohl deren Urheber schon längst diese Welt hinter sich gelassen hatten.

Die Sonne nähert sich dem westlichen Horizont, und taucht den Himmel in rote Farben, überall dort, wo die Wolken eine Lüke bilden. Der Himmel sieht nun aus, als schwebe dort ein ätherischer Titan, der aus leuchtenden Wunden blutet.
Ein Laden schlägt gegen das Fenster. Malister erschrickt. Er muss fliehen, bevor die Dunkelheit die Oberhand gewinnt, sonst würde er das Schicksal der einstmaligen Einwohner teilen.
Aber der Wind nimmt weiterhin zu. Egal! Lieber im Schneesturm sein Ende finden, als hier.
Die Einkehr beginnt zu brummen. Einsetzende Vibrationen kitzeln Malisters Körper. Er kann sich vor Angst kaum noch bewegen und muss zusehen wie die Sonne mehr und mehr von den Bergspitzen verschluckt wird. Das Dämmerlicht nimmt stetig ab. Malister starrt zur Decke. Dort tanzen schon die dunklen Schatten! Sie bewegen sich als wären sie Dämonen. Zum Leben erweckt, versuchen sie mit scharfen Klauen nach ihm zu greifen.

Noch meiden sie die letzten vom Sonnenlicht erhellten Stellen, aber mit dem schwächer werdenden Licht kommen sie dem Boden immer näher. Malister schreit. Endlich erlangt er wieder Gewalt über seinen Körper. Mit klopfendem Herzen rast er zum Ausgang, mit einem Satz springt er über die Schwelle. Dann läuft er und läuft und läuft….

*

„Irgendwie ist es mir gelungen, dem Schneesturm zu trotzen. Ich wanderte wie in Trance, und wie durch ein Wunder habe ich es nach einer Nacht- und Tagesreise hierhergeschafft. – Es ist, als wollten die Götter, dass ich von dem unbekannten Volk berichte, damit es nicht in Vergessenheit gerät“.
„Diesem Volke kann geholfen werden“, sprach Kolgimar der Barde und ließ die Leier erklingen. „Ist es mir erlaubt, euer Gedicht in eine Melodie zu kleiden? Dann werde ich eure Geschichte auf meiner Reise weitertragen.“
Malister lächelte matt und nickte.
Einer der Barbaren lachte. „Ihr Geschichtenschreiber und Musikanten! Zu schwach, um ein richtiges Schwert zu halten, aber stark darin, den Legenden von Avalgaron neuen Unsinn hinzuzufügen.“
„Wenn ihr Geschichten schreiben, und Lieder trällern wollt, dann Abenteuer, die sich wirklich zugetragen haben. Ulf und ich hätten euch so einiges zu berichten“, meinte der zweite Barbar.

„Zugegeben! Seltsam ist die Geschichte schon. Noch nie habe ich von so einem Volk in der Nähe gehört. Auch das verlassene Dorf ist völlig unbekannt“, Bruno kratzte sich am Kopf. Dann lachte auch er, warm und herzlich. „Aber sie hat uns die Zeit vertrieben. Und das ist doch auch was wert, egal wieviel Wahrheit nun dahintersteckt.“
„Und Ihr habt das Wesen, das euch auflauerte nie gesehen?“ fragte Juladai mit ängstlichem Ausdruck.

Malister hob zitternd seine Tasse an die Lippen. Alle – selbst die Barbaren – schauten ihn mit neugierigen Augen an. „Vielleicht einmal!“ flüsterte der Poet. „Nur einmal habe ich zurückgeblickt.
Vor der Einkehr stand eine Schimäre des vergangenen Volkes, die mir hinterher blickte. Es war die junge Frau auf dem Bild in der Stube. Sie trug ein wunderschönes blaues Gewand und ihre hellgoldenen Haare wehten im Wind.
Vielleicht sah ich hier diesen hungrigen Jäger, der die Form eines seiner Opfer angenommen hat, um mich zu verhöhnen, – oder! Um mich, mit becircender Schönheit, zurück in die Einkehr zu locken.

Vielleicht…Vielleicht aber, war es auch der geschundene Geist des Mädchens, ewig an den Ort ihres Todes gebunden, voll Verzweiflung und Trauer.“

*

Am nächsten Morgen trabte Bruno Butterfass hoch in den ersten Stock, zur Stube, die er Malister für vergangene Nacht überlassen hat.
Der Wirt klopfte. Doch drinnen regte sich nichts. „Herr Malister?“ rief Bruno und klopfte abermals. Es blieb weiterhin still.

Da trat Bertold in die Kammer. Sie war klein aber gemütlich eingerichtet, mit einem Kamin an der linken Seite. Gegenüber stand ein kleines Bett, so schmal, dass nur eine Person bequem darin liegen konnte. Gegenüber der Tür schien die frühe Sonne durch das Fenster, davor stand ein schmaler Holztisch, zu dem ein Stuhl gehörte. An der rechten Wand dienten Haken als Garderobe.
„Herr Malister Minster?“ Doch Stube war verlassen, dass Bett gerichtet. Der Wirt trat bedacht näher. Da entdeckte er, dass auf dem Tisch ein Gegenstand in der Sonne funkelte. „Was ist das?“
Eine mehr als gerechte Bezahlung, staunte Bruno. Ein aufwendig gestalteter Ohrring strahlte ihn an. Drei karottenförmige Juwelen, gelb wie Kastanienhonig, waren daran an je drei Kettengliedern befestigt.

„Aber das ist ja ein Ohrring! Und wie kunstfertig er gestaltet ist! – Wo hat er den her?“ Tatsächlich versetzte das filigran geschmiedete Schmuckstück den Wirt in Erstaunen. Das wäre sicher ein Kleinod, das zu einem Volk passen würde, wie der Poet es beschrieben hat. Da begriff Bruno, Malister hatte die Wahrheit erzählt.

Der Poet selbst tauchte nie wieder auf. Als Bruno Butterfass vor die Türe seiner Taverne trat, sah er im Schnee frische Stiefelspuren, die führten Richtung Eiswindklamm. Die Spuren gehörten zwei verschiedenen Verursachern. Das eine Stiefelpaar könnte von der Größe her zum Poeten passen, das andere war schmaler und drückte sich nicht so tief in den Schnee. Scheinbar war Malister schon vor Sonnenaufgang aufgebrochen, aber nicht allein. Es sah so aus, als führte ihn ein zierliches Wesen dahin zurück wo er hergekommen ist, zurück zu einem Dorf, das nur Malister sehen konnte, – zurück zur Einkehr des vergangenen Volkes.

(1) Kleinwüchsiges aber stämmiges Volk. Vor allem in Bergen beheimatet. Bekannt für Schmiedekunst. Dwarkstämme leben entweder in ausgedehnten Höhlen, oder in, von Bergen umringten Steinhaus-Dörfern.

Überarbeitet Michael Sagenhorn Poing März 2023 / Erstfassung © Michael Sagenhorn München, 23.11.2008

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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