Michael Sagenhorn/ März 20, 2022/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genere: Horror, Mystery – Geeignet ab 14 Jahren

In der Ferne erkannte ich noch die Scheinwerfer des davon rauschenden Zuges. Sie versuchten sich verbissen gegen die nächtliche Dunkelheit zu behaupteten und blickten wie rot glühende Augen böse auf mich zurück. Während das Konstrukt auf dem verwitterten Gleis der Fremde entgegen raste, drang sein hohles Geheul zu mir herüber, so als wollte es beklagen, dass ich es verpasste hatte.


Allerdings war ich nicht der einzige Nachzügler. Am Beginn des verfallenen Bahnsteiges, der zu dem alten Nebengleis gehörte, verweilte ein auffallend großer Mann, mir den Rücken zugewandt. Während die Lichter des Zuges verblassten und schließlich gänzlich entschwanden, drehte er sich langsam zu mir um. Es war mir nicht möglich seine Gestalt aus dieser Entfernung näher zu bestimmen, zumal der größte Teil seines Körpers von einem langen, dunkelgrauen Mantel verdeckt wurde. Der Mann wankte. Ja, er wankte, unnatürlich steif, langsam und gleichmütig, wie ein auf den Kopf gestelltes Pendel. Darüber hinaus blieb mir sein Gesicht ein Rätsel, verborgen im Schatten einer breiten Hutkrempe. Erst als er an der Zigarette zog, enthüllte die aufleuchtende Glut einige Stellen seines hageren Antlitzes. Eingefallen, zerfurcht, wahrscheinlich fahl, und dennoch ohne bestimmbares Alter. Fast schien es, als wollte diese abstrakte, lebensgroße Puppe ihre Fremdartigkeit mit einem langen Mantel und einer menschlichen Maske kaschieren.
Einmal pendelte der dürre Leib dieses Etwas soweit nach links, dass es unmöglich das Gleichgewicht hätte halten können, und doch verharrte es regungslos in dieser Position und winkte mir gespenstisch zu.
Bei diesem Anblick, ich weiß heute nicht mehr wieso, wurde mir übel. Hätte ich meinen Blick nicht von dem Wesen abgewandt, ich hätte mich sicher übergeben. Jedoch, da war ich mir sicher, wäre nicht meine halbverdaute Mahlzeit auf den Boden geplätschert, sondern ungeborene Gedanken, die ich tief in meinem Geist zu begraben versuche. Kurze Zeit darauf siegte aber meine Neugier. Ich blickte erneut in Richtung des Mannes, doch der war bereits verschwunden.


Mich fröstelte – trotz der lauen Sommernacht. Weg! Nur weg von diesem abgelegenen Nebengleis. So floh ich durch die erstickende Schwüle, versuchte der bedrückenden Einsamkeit des betonierten, grau in grau gegossenen Bahnsteigs zu entgehen und hastete zur Haupthalle. Meine unruhigen Schritte hallten durch die abgelegenen Teile des Bahnhofes.
Wie bin ich hierher geraten? ’ kam es mir in den Sinn. ‚Wo war ich zuvor?‘ – Gott sei Dank! Die Haupthalle liegt vor mir! Jetzt schnell hinein! Endlich! Endlich wieder unter Menschen!
Ich würde auf Nachtschwärmer treffen, und auf Betrunkene, die ihren Rausch ausschliefen, und auf Sicherheitsbeamte, die eben jene Betrunkene davon abzuhalten versuchten. Ich würde an duftenden Imbissläden vorüber gehen, die auch nachts geöffnet hatten, denn hungrige Reisende tauschen zu jeder Zeit ihr Geld gegen Fingerfood jedweder Art.


Doch als ich den Bau betrat, wollte ich vor Verzweiflung schreien. Ich stand in einer gewaltigen, aus verschmierten Glaskacheln bestehenden Halle – dunkel, düster, menschenleer! Unzählige Gleise lagen zu meiner Linken. Jedes parallel zum anderen verlaufend, führten sie hinaus, in die stockfinstere Nacht. Die nördlichsten Gleise, ganz hinten, verloren sich ebenfalls in der Dunkelheit.
Ein plötzliches Geräusch schreckte mich auf. Ein nervöses Flattern über meinem Haupt. Tauben? Tauben! Ganz sicher! Oder doch etwas anderes? Etwas, das diesem Wesen am Nebengleis ähnelte?

Ein erster Reflex gebot mir aus der Halle stürzen. Doch wohin sollte ich fliehen? Nach draußen in die schattenfressende Nacht? Nein! Lieber bleibe ich in diesem Gemäuer.
Da! Noch ein Geräusch! Diesmal aus dem hinteren Teil der Halle. Dröhnende Motoren summten eine monotone Melodie, die mich in deren Richtung zog.
Vorsichtig schritt ich an den Schienen vorbei, und schließlich erkannte ich einen gewaltigen Umriss. Etwas ruhte auf einem der Gleise, etwas das auf mich wartete.
Endlich durchbrachen meine Blicke die Dunkelheit, und ich erkannte die Maschine. Einer stählernen Schlange gleich, so lang, dass sie von einem Ende der Halle bis zum anderen reichte, lag sie neben dem Bahnsteig Nummer 9. Die Schlange spuckte hellen, heißen Dampf zwischen ihren Rädern heraus. Der quoll mir entgegen und hüllte mich ein.
In meinem Unterbewusstsein schrie eine innere Stimme, geplagt vom tiefsten Entsetzen. Sie mahnte mich, zu rennen und mich keinesfalls mehr umzudrehen. Doch ich wollte die Schreie nicht hören und betrachtete fasziniert den alten Zug.
Oder treffender ausgedrückt dessen rostige Waggons, deren grüner Anstrich schon an vielen Stellen abgeblättert war. Die Lok selbst umhüllte sich weiterhin mit Finsternis. Einige der verfallenen Wagen waren völlig durchlöchert. Die Fenster dagegen wiesen nicht die kleinsten Sprünge oder Kratzer auf. Dennoch waren sie so trübe, dass ich nicht hineinsehen konnte.
Die große Anzeigetafel verriet, dass auch dieser Zug den Bahnhof bald verlassen würde. Dort stand: Gleis 9 nach – dann kamen verschnörkelte Zeichen, die ich nicht entziffern konnte – Abfahrt in 11 Minuten.
Eine Waggontüre glitt quietschend zur Seite. Sie lockte mich, einzusteigen und meiner Neugierde nachzugeben. Geisterhafte, süße Stimmen riefen nach mir, und sehnten sich nach meiner Gegenwart.
Sollte ich es wagen? Wohin fuhr dieser Zug, dessen unsichtbare Passagiere mich so innig baten, an ihrer Gesellschaft teil zu haben? Mir blieb nicht mehr viel Zeit. Abfahrt in 5 Minuten, mahnte die Tafel.
Steig schon ein! ’ riet ich mir selbst. ‚Der Ort zu dem wir reisen muss voller wunderbarer Dinge sein’.

Doch meine innere Stimme gab keine Ruhe und heulte immer lauter, und für einen Augenblick glaubte ich in den Tiefen der gläsernen Halle eine gierige Präsenz zu spüren.
Steig ein!“ flöteten jetzt auch die Passagiere. „Versäume nicht dein Glück!
Noch 3 Minuten!
Ich durfte nicht länger zögern, und mich nicht von meinen Ängsten abhalten lassen, all die Herrlichkeiten zu erleben, die der Klang der Stimmen versprach.
Schnell, schnell! Spute dich“, forderten sie.
Die letzte Minute!
Ich war bereit. Ohne auf den warnenden Aufschrei in meinem Geist zu hören, eilte ich zur offenen Tür.
Abfahrt auf Gleis 9“, dröhnte eine Lautsprecherstimme. „Zurück bleiben, bitte!
Niemals! Ich griff nach dem Stützbügel, seitlich der Tür. Mein linker Fuß berührte das Steiggitter. Der Zug begann langsam anzurollen. Dampfend und pfeifend walzte er los. Ein Sprung und ich hatte es geschafft!
Ein letzter Satz, da –

– da riss ich meine Augen auf. Wo bin ich? In einem Bett? War alles nur ein Traum? Aber das Bett, in dem ich lag, war nicht das meine. Es gehörte zu einer Intensivstation.
Tage später erfuhr ich von einem Arzt, was mit mir geschehen war. Ein Laster hatte mich frontal erfasst. Drei Tage hatten die Ärzte damit zugebracht, mein Leben zu retten.

Der Schreck hätte mich beinahe ins Koma zurückgestoßen. Schlagartig drang eine Erkenntnis in meinen Verstand, die ich während meines so genannten Traumes in den tiefen Gewässern meines Unterbewusstseins zu ertränken versucht habe.
Nur mein Instinkt hatte die latente Gefahr registriert, denn dieser Bahnhof mit dem Zug und all seinen Gleisen ist mehr als nur ein Schemenspiel gewesen.
An der Schwelle des Todes war meine entweichende Seele auf einen Irrweg geraten und hatte sich, anstatt den sicheren Schoß des Ander-Reiches anzusteuern, von einer lauernden Wesenheit ködern lassen. Einer Wesenheit so fremdartig und abnorm, dass mein Geist sie nur wahrzunehmen vermochte, weil er Bilder von etwas Bekannten damit verband. Bilder eines Bahnhofes.
Das Ganze liegt nun drei Jahre zurück, meine Verletzungen sind alle verheilt. Ich hatte Glück. So denke ich nur noch selten an jenen merkwürdigen Traum. Ich erlaube es mir auch nicht, denn irgendwann, wird meine Seele diesen Körper endgültig verlassen. Keinen Arzt wird es dann gelingen sie zurückzuholen. Und wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, habe ich keine Lust wieder in einer Bahnhofshalle zu stehen.

Michael Sagenhorn 2022

Bildquelle: © Michael Sagenhorn

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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