Michael Sagenhorn/ Januar 11, 2022/ Kurzgeschichten/ 0Kommentare

Genre: Märchen und Mythen – Geeignet für alle Altersgruppen

Das ohrenbetäubende Donnern der grimmigen Wolken hallte bedrohlich durch das Südtiroler Dolomitengestein. Dabei waren die nebligen, zu schummrigen Ungeheuern geformten Titanen noch gerade eben sehr friedlich, vom lauen Wind getrieben, über den Himmel geglitten, und hatten die warme Sommersonne mit ihrem Schattenspiel geneckt.


Nun spien sie Feuer und Wasser, erbrachen heftigen Regen und funkelnde Blitze, und verbreiteten ein Gefühl der Hilflosigkeit unter den dort ansässigen Dorfbewohnern, da diese, zumeist in trockenen Stuben, tatenlos abwarten mussten, bis das, was man in alten Sagen den Zorn der Götter nannte, im Begriff war zu verrauchen.


So erging es auch dem kleinen Jan. Als der Junge bemerkt hatte, wie die schweren, schwarzen Wolken den nahen Berggipfel umhüllten, war es bereits zu spät, die Wanderung auf den Schlern abzubrechen und ins Dörfchen Seis zurückzukehren. Jan fand gerade noch Zeit, zu einem einsamen Heustadel am Waldrand zu flüchten. Dort schlüpfte er unter, lugte durch eine der breiten Spalten in der Holzwand nach draußen und beobachtete das tobende Schauspiel der Natur. Jan zitterte fürchterlich, da er, der Stadtbursche, solches Gewitter noch nie aus nächster Nähe erlebt hatte.


Ein schrecklicher Blitz zuckte über den Schlern hinweg, beschien hierbei den alten Koloss, für einen kurzen Augenblick, und für Jan sah es so aus, als würde das düstere Urgestein anklagend und zornig auf ihn herabblicken.
Trieben Jans Ängste mit ihm Schabernack? Oder bot der Berg wegen Jans schlechtem Gewissen einen so Furcht erregenden Anblick, da er Großvaters Vereinsausflug genutzt hatte, um sich heimlich davonzustehlen und, zum ersten Mal, ganz allein auf Wanderschaft zu gehen.


Jetzt wo Jan an seinen Großvater dachte, fielen ihm auch dessen Geschichten ein. Alte Geschichten, unheimliche Geschichten, und alle rankten sich um den wütenden Felsen, von dem die Einheimischen behaupteten, er habe magische Kräfte.


Immer lauter hallte das furchtbare Ungewitter von den Wänden der Berge wider, und mit dem betäubenden Knall flackerte plötzlich die wilde Gestalt des bösen Riesen Wombawa in Jans Gedanken auf, der laut Großvaters Erzählung seit dem Mittelalter das Gestein durchstreifte. Zu jener Zeit hatten Hexen und Dämonen den Schlern zum Tanzplatz auserkoren. Jan hatte sich damals bei diesen Märchen sehr erschrocken, später aber in Erfahrung gebracht, dass Wombawa, ein Ungeheuer, halb Mensch, halb Tier, alleine Großvaters Fantasie entsprungen war. Heute glaubte der Junge ohnehin nicht mehr an Hexen, Geister oder Dämonen. Sie existierten genauso wenig wie der Weihnachtsmann oder der Osterhase. Alles Märchen und Hirngespinste! Aber den spannenden Geschichten seines Großvaters lauschte er immer noch gerne.


Märchen? Hirngespinste? Nicht in dieser Nacht! Denn in der Dunkelheit der Berge, besonders dann, wenn Wind und Donner über sie hinwegfegen, verliert die Realität an Bestand, und beseelt durch die Furcht des Jungen, erwachen beklemmende Sagengestalten zum Leben.
Jan meinte tatsächlich, durch den Regen, der gegen das Scheunendach klopfte, Wombawas wütendes Gebrüll zu vernehmen.

„Nein, das ist nicht möglich!“ machte Jan sich bewusst.
Er nahm dennoch seinen großen Wanderstock abwehrend in die Hand und verkroch sich tief ins schützende Heu. Verzweifelt kramte er sein Smartphone aus der Tasche, weil er Großvater bitten wollte, ihm beizustehen. Aber Jan musste erschrocken feststellen, dass er keinen Empfang hatte.
Der fürchterliche Riese brüllte weiter. Der neben der Scheune verlaufende Bach schwoll an, als der Regen weiter prasselte. Draußen heulten grausame Hexen mit dem Wind um die Wette, tanzten Unholde umher, und Wombawa grölte grässliche Lieder. Kichern und Gackern mischte sich mit Feixen und Johlen. „Lasst mich in Ruhe!“ brüllte Jan den Geistern entgegen. „Verschwindet zurück in Eure Höhlen!“
Der Sturm blies indes weiter um den Schober und brachte das Holz so sehr zum Knarren, dass Jan annahm Wombawa stemme sich gegen das Tor, um es niederzureißen. Doch das Tor hielt dessen ungeachtet der tobenden Angriffe stand, blieb heil und beschützte den bibbernden Jungen dieser unruhigen Nacht.

Am Morgen trat Jan erleichtert vor die Scheune und blickte zum sonnengeröteten Gipfel des Schlern hinauf. Wie dumm kam er sich vor, jetzt da der Berg wieder ruhig zu schlafen schien. Hatte er wirklich angenommen, Wombawa würde mit seinen Hexen um den Stadel geistern? Nun, bei angehendem Tageslicht, sah die Welt schon freundlicher aus.
„Komm nur her, Wombawa! Dann hau’ ich dich mit meinem Stock“, rief er mutig in die Dolomiten und schwang seinen Stab wie ein Schwertkämpfer.


Jan genoss noch einen Augenblick die Aussicht auf das ferne Dörfchen, weit unten in der Hochebene und stellte, mit einem goldigen, glücklichen Lächeln, seine jüngste Zahnlücke zur Schau. Darauf beschloss er ins Tal zurück zu marschieren. Großvater machte sich sicher schon Sorgen.
Nach einigen Metern, er hatte die Scheune schon hinter sich gelassen, erspähte er merkwürdige Abdrücke auf dem feuchten Waldboden. Jan erschrak fürchterlich. Was für ein Wesen hinterließ denn solche Spuren im Erdreich? Die Fährte belegte, dass, vor gar nicht all zu langer Zeit, riesige, krallenbewährte Tatzen in den tiefen Wald hineingetrottet waren, und Jan hoffte sehr, dass diese Tatzen nur zu einem Tier gehörten.

Michael Sagenhorn 2022

Bildquelle: © Michael Sagenhorn

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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