
Jin-Roh ist ein schonungsloser Politthriller. Wir begeben uns in das Japan einer alternativen Realität, in der Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen hat und nun auch Japan beherrscht. Dieser Anime zeigt das erschreckende Gesicht einer totalitären Gesellschaft. Die Bevölkerung wird durch Terror unterjocht, erdrückt von einer allgegenwärtigen Staatsmacht, die jeden Lebensbereich ihrer Bürger lenken möchte.
Kaum ein anderer Anime hat es geschafft, mich dermaßen aufzuwühlen, gerade zum Ende hin. Zeigt er doch eine Welt unerbittlicher Organisationen, in der Menschlichkeit und Liebe keinen Platz mehr finden.
Achtung! Hier wird es zu Spoilern kommen!
Handlung
10 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind in Japan Aufstände und Straßenschlachten an der Tagesordnung. Die sogenannte Antiregierungsbewegung, eine Terrorgruppe, die man auch ‚Die Sekte‘ nennt, verübt regelmäßig blutige Anschläge. Dabei scheut die Gruppe nicht einmal davor zurück, junge Mädchen, sogenannte ‚Rotkäppchen‘, als Bombenkuriere einzusetzen.
Während eines dieser Kurierdienste wird ein junges Mädchen von einem Mitglied der ärgsten Widersacher der Sekte gestellt. Kazuki Fuse gehört zu den besten Soldaten der Spezialeinheit. Mehr noch: Er gehört zu einer geheimen Unterorganisation der Spezialeinheit, der Jin-Roh Wolfsbrigade, zuständig für Exekutionen. Trotzdem zögert Fuse in einem Anflug von Menschlichkeit, die kleine Terroristin zu töten. Das gibt dem in die Enge getriebenen Mädchen Zeit, ihre Bombe zu zünden. Das Mädchen wird zerfetzt, Fuse hingegen kommt dank seiner schwer gepanzerten Rüstung mit leichten Verletzungen davon.
Fuse wird vom Dienst freigestellt und verhört. Seine Vorgesetzten wollen den Grund für sein Versagen wissen. Mitglieder der dritten entscheidenden Organisation neben der Sekte und der Spezialeinheit, der Hauptstadtpolizei, sehen in Fuse, der gezögert hat, das Mädchen zu töten, eine Gelegenheit, ihre Rivalen von der Spezialeinheit entscheidend zu schwächen, um ihren eigenen Führungsanspruch in der Stadt weiter auszubauen und beide Behörden zusammenzulegen. Daher wird er von diesem Zeitpunkt an von polizeitreuen Agenten beschattet.
Indessen versucht Fuse, das Ereignis zu verarbeiten. Er fragt sich, wer das Mädchen war, das sich lieber in die Luft gejagt hat, als sich von ihm festnehmen zu lassen. Er besucht das Grab des Mädchens. Dort angekommen, glaubt er seinen Augen nicht zu trauen. Davor steht scheinbar jenes Mädchen, das sich vor seinen Augen in die Luft gejagt hat.
Als Fuse sie anspricht, stellt sie sich als Kei Amemiya, die Schwester des gestorbenen Mädchens, vor. Die beiden treffen sich wieder. Zwischen ihnen entsteht langsam eine zarte Freundschaft, die umso inniger wird, je öfter sie sich sehen, denn Kei sucht in dieser kalten Welt nach jemandem, der sie in Erinnerung behält. Ihre größte Angst ist, nach ihrem Tod vergessen zu werden. Jedoch lauert die Hauptstadtpolizei bereits auf den richtigen Moment, Kei zu benutzen, um Fuse aus dem Weg zu räumen …
Warum hast du so ein großes Maul?
Die Geschichte von dem Wolfsbrigadisten Fuse und dem Mädchen Kei ist eigentlich eine moderne Interpretation von Rotkäppchen. Kei erzählt Fuse genau diese Interpretation, leitet sie aber von einer viel älteren und grausameren Version der Geschichte ab, als das Märchen nicht ‚Rotkäppchen‘ hieß, sondern ‚Die falsche Großmutter‘.
In Keis Erzählung wird Rotkäppchens Mutter vom Wolf getötet. Später bietet der verkleidete Wolf dem hungrigen Rotkäppchen Fleisch an, doch eine Katze warnt, sie äße das Fleisch ihrer Mutter. Darauf angesprochen meint der Wolf nur, Rotkäppchen solle die Katze nach draußen setzen. Nach dem Mahl bekommt das Mädchen Durst. Der Wolf empfiehlt ihr den Wein in der Küche. Als Rotkäppchen davon trinken will, warnt ein kleiner Vogel auf dem Schornstein, sie tränke das Blut ihrer Mutter. Darauf angesprochen befiehlt der Wolf dem Mädchen, sie solle ihr Käppchen nehmen und nach dem unverschämten Vogel werfen. Rotkäppchen löscht ihren Durst mit dem Blut ihrer Mutter, wird müde und legt sich zum Wolf ins Bett.
Einen Jäger, der Rotkäppchen und die (Groß)Mutter rettet, gibt es in Keis düsterer Version von Grimms Märchen nicht. Rotkäppchen entkommt auch nicht, wie in jener Fassung, die den Machern als Vorlage für Keis Erzählung gedient hat. Es ist nicht schwer zu erahnen, wer in Jin-Roh der Wolf und wer das Rotkäppchen ist.
Fuse und Kei sehnen sich beide nach einem Platz, an den sie gehören, nach einer Gemeinschaft, nach Gleichgesinnten, denen sie wichtig sind, ohne zu begreifen, dass ihre Beziehung der Schlüssel für sie beide sein könnte, genau das zu erhalten. Sie bleiben gefangen in ihren Rollen, wie der Wolf und das Rotkäppchen, deren Geschichte sie zwangsläufig in verschiedene Lager rückt.
Hintergrund der Geschichte: Die Kerberos-Saga
Jin-Roh ist eine eigenständige Geschichte, spielt aber im Universum der Kerberos-Saga. Leider erfahren wir in dem Anime so gut wie nichts über das interessante Worldbuilding dieser Saga. Daher gebe ich hier einen kurzen Abriss:
In der alternativen Realität der Kerberos-Saga hat Deutschland den Zweiten Weltkrieg gewonnen, jedoch nicht unter Hitler und den Nazis. Das Stauffenberg -Attentat vom 20. Juli 1944 auf Hitler gelang. Infolge dessen wurde Deutschland entnazifiziert und eine neue Weimarer Republik wiederhergestellt. Jedoch bleibt der Autoritarismus des Dritten Reiches vorherrschend. Das erfolgreiche Attentat beendete den Weltkrieg nicht. In diesem Weltkrieg blieben die USA neutral. Das Kaiserreich Japan hingegen schloss sich nicht den Achsenmächten an, sondern den Alliierten.
Aufgrund fortschrittlicher Technologien, u. a. eines gepanzerten Exoskelett-Kampfanzugs mit Stahlhelm und Gasmaske, gewann Deutschland den Krieg und besetzte Japan. Aufgrund des Wirtschaftsbooms der Nachkriegszeit änderte Deutschland den Kurs der Besatzung. Das „Weimarer Establishment“ wurde als neue Regierung eingesetzt, um Japan zu modernisieren. Die Wirtschaft profitierte davon und wuchs weiter, was jedoch auch den Unterschied zwischen den Klassen verschärfte. Regierungsfeindliche Bewegungen greifen nun immer häufiger auf terroristische Aktionen zurück.
Wiederkehrende Orte und Motive
Ein prominenter wiederkehrender Ort in der Kerberos-Saga ist die Kanalisation, die oft für einen Beginn oder einen Showdown als Schauplatz genutzt wird. Auch in Jin-Roh wird die Kanalisation für entscheidende Ereignisse gewählt: Am Anfang sprengt sich hier das Mädchen in die Luft. Das Finale findet ebenfalls in den stinkenden Abwässern des Untergrunds statt.
Ein weiteres immer wieder auftauchendes Motiv ist der Hund, bzw. der Wolf, für das Wilde, aber auch den Zusammenhalt im Rudel. Hier umgesetzt durch das Märchen Rotkäppchen. Immer wieder taucht der Wolf in Jin-Roh auf, z. B. wenn Fuse von Träumen geplagt wird. In diesen Träumen wird Kei von Wölfen durch die Abwasserkanäle gehetzt. Die Wölfe zerreißen und fressen das Mädchen, ohne dass Fuse es verhindern kann.
Fazit
Meist mag ich ernste Filme lieber, wenn sie mit ein wenig Humor an passender Stelle aufgelockert werden, wie etwa bei der Anime-Serie Elfen Lied.
Jin-Roh enthält solche Szenen nicht. Sie passen auch nicht, denn weder die Handlung noch die Charaktere lassen die geringste heitere Ablenkung zu. Keine Spur Leichtigkeit, kein Schimmer Hoffnung durchbricht den melancholischen Ton. Ein Kunststück ist es, den Film trotzdem nicht an seiner eigenen Tragik ersticken zu lassen. Verhängnis und Verderben werden als Stilmittel genutzt, die Geschichte ergreifend zu erzählen. Es ist eine stille, stark inszenierte Geschichte über Verrat, falsche Freundschaft und vergebliche Hoffnung.
Die blassen, entsättigten Farben steigern die Wirkung des Werks ebenso, wie der atemberaubende Soundtrack, der die Schwere des Films akustisch unterstreicht.
Gewinner sind nicht die Protagonisten, auch nicht die unmenschlichen Organisationen dieses Japans, sondern die Zuseher, die zwar keine einfache Kost bekommen, jedoch voll auf ihre Kosten kommen, bei diesem packenden Sci-Fi-Thriller einer alternativen Realität.
Jin-Roh ist derzeit leider schwer auf Deutsch zu bekommen, weder als DVD noch als Blu-ray. Jedoch ist die englische Version erhältlich.
Tipp: Wenn euch der Film interessiert und ihr euch eine gebrauchte deutsche DVD zulegen möchtet, haltet Ausschau nach der Deluxe-Edition. Die enthält auch den herausragenden Soundtrack. Stellt euch aber auf teilweise hohe Preise ein.
Originaltitel: Jinrō. Anime, Science-Fiction, Drama. Japan 1999. 98 Minuten. Regie: Hiroyuki Okiura. Drehbuch: Mamoru Oshii. FSK 16
