Michael Sagenhorn/ Juni 3, 2025/ Kino und Film, Science-Fiction/ 0Kommentare

Regisseur John Carpenter ist einer meiner persönlichen Favoriten, wenn es um unheimliche Filme aus den 80ern geht. Mit einfachen Mitteln und wenig Geld gelang es ihm, Kultfilme abzuliefern, Filme wie Die Klapperschlange, Halloween, Das Ding aus einer anderen Welt.

Zum speziellen Charakter der Filme trägt auch der Soundtrack bei, den Carpenter häufig selbst geschrieben hat, oft in Zusammenarbeit mit Sound-Effekt-Spezialist und Komponist Alan Howarth. Carpenters Klänge sind schlicht, gehen aber trotzdem unter die Haut. Ebenso häufig schrieb er auch das Drehbuch zu seinen Filmen. Sie leben ist einer jener Filme, in dem Carpenter Regie, Drehbuch und Musik übernahm.

Herausgekommen ist ein zeitloser Science-Fiction-Thriller, dessen wirtschaftskritische Botschaft heute noch so aktuell wie damals ist. In den Hauptrollen: Wrestler Roddy Pipper und Keith David (Das Ding aus einer anderen Welt, Platoon).

Handlung

Tagelöhner John Nada beginnt einen neuen Job auf einer Großbaustelle in Los Angeles. Hier lernt er den Bauarbeiter Frank kennen, und obwohl sie unterschiedliche Charaktere sind, entsteht so etwas wie eine persönliche Verbindung zwischen den beiden. Nada glaubt daran, dass man in Amerika seinen eigenen Traum verwirklichen kann, solange man hart genug dafür arbeitet. Frank hingegen hat aufgrund seiner Erfahrungen ein anderes Bild von seinem vom gnadenlosen Kapitalismus geprägten Land.
Frank nimmt Nada mit zu einer Suppenküche inmitten einer Barackensiedlung. Hier leben jene, die noch weit von der Erfüllung ihres ‚American Dream‘ entfernt sind. Die Kirche nebenan scheint Hoffnung zu geben. Den Chor hört man bis auf die Straße. Doch Nada findet das Verhalten des blinden Priesters und anderer Gestalten, die in der Kirche ein- und ausgehen, sonderbar. Tatsächlich stellt er bei einer Inspektion der Kirche fest, dass der Chor von einem Tonband kommt.

Zugleich gelingt es einem Piratensender immer wieder das reguläre TV-Programm zu unterbrechen. Ein geheimnisvoller Sprecher verbreitet scheinbare Verschwörungstheorien von unbekannten Mächten, die wollen, dass die Leute weiterschlafen. Diese Mächte haben anscheinend das Land übernommen.
In der gleichen Nacht wird die Kirche gewaltsam von einem großen Aufgebot der Polizei geräumt, die Barackensiedlung wird dem Erdboden gleich gemacht. Nada kann fliehen und durchsucht am nächsten Morgen die Kirche nochmal genauer. Dabei findet er einen gut versteckten Karton voller Sonnenbrillen. Nada nimmt eine der Sonnenbrillen an sich und verstaut den Karton in einer Mülltonne.

Als er die Brille arglos aufsetzt, verändert sich schlagartig sein Leben. Durch die Sicht der Brille verschwinden die Farben der Stadt, verflüchtigen sich zu einem monotonen, grauen Brei. Augenscheinliche Menschen, die ihm begegnen, verlieren ihre Masken und verwandeln sich in fremdartige Kreaturen. Nada stellt erschüttert fest, die Menschen leben nicht allein auf ihrem Planeten.
Die Welt, die er glaubte zu kennen, löst sich auf. Dahinter verbirgt sich eine Dystopie, in der die Menschen nur die Rolle von Nutztieren spielen. Als die Besatzer entdecken, dass er ‚sehen‘ kann, ist die Jagd auf ihn eröffnet …

Wenn der Mensch zu etwas Fremden wird

John Carpenter tarnt in seinem Film, der auf einer Kurzgeschichte von Ray Nelson basiert (Eigth O’Clock in the Morning), das Unmenschliche, das wir an uns selbst nicht wahrhaben wollen, hinter einer außerirdischen Spezies, die unsere Welt als Kolonie betrachtet und uns entsprechend ausbeutet.
Jene Menschen, die ihre eigene Spezies verraten, werden von den Außerirdischen reich belohnt, ohne sich dafür anstrengen zu müssen, während andere Menschen, die sich abschuften, um auch etwas von dem American-Dream-Kuchen abzubekommen, trotzdem immer wieder scheitern. Der Traum zerplatzt.
Beklemmend real kommen uns manche Situationen im Film vor. Man könnte fast zur Ansicht gelangen, dass Carpenters stille Invasoren tatsächlich existieren.

Denn wie sieht es bei uns aus? Nach wie vor erleben wir den Abbau der Mittelschicht in den westlichen Ländern, während in Märkte für Arme und Reiche weiter investiert wird. Spekulationen mit Lebensmitteln machen dringend benötigte Nahrung immer teurer, worunter die normale Bevölkerung leidet. Wasser wird zum Lifestylegetränk und zum Statussymbol, während anderswo das natürliche Wasser immer mehr verdreckt oder versiegt. Das sind nur ein paar Beispiele. Wo wir auch hinsehen, überall gibt es Missstände, die keiner anzugehen scheint.
Wie gut und tröstlich wäre es, wenn wir die Ursache für diese Missstände auf eine außerirdische Zivilisation abwälzen könnten. Dann müssten wir uns keine Gedanken mehr machen, wie verdorben Menschen unter dem Deckmantel einer anständigen Gesellschaft sein können.

Wie Kinder wären wir nur, und quasi aus Kindern besteht Carpenters Menschenzivilisation. Die einen leben, die anderen schlafen. Sie schlafen einfältig weiter, in einer ‚realen‘ Matrix, die 11 Jahre vor der Matrix des gleichnamigen Kultfilms von 1999 entstanden ist.
Die rote Pille ist hier die Sonnenbrille, die sogenannte Hoffmann-Linse. Wer durch sie blickt, hat ein schmerzhaftes Erwachen in einer grauen Welt. Bunte Bilder der Werbeplakate und Zeitschriften verwandeln sich in serifenlose Schriftzeichen, die uns ihre Befehle ins Unterbewusstsein pflanzen: OBEY (Gehorche), CONSUME (Konsumiere), NO THOUGHT (Keine Gedanken), WATCH TV (Sieh‘ fern), WORK 8 HOURS, SLEEP 8 HOURS, PLAY 8 HOURS (Arbeite 8 Stunden, Schlafe 8 Stunden, Spiele 8 Stunden). Mit anderen Worten: Tue alles, um der Wirklichkeit zu entfliehen und um den Reichtum der Besatzer zu mehren.
Sobald die Sonnenbrillen abgenommen werden, bereiten sie Kopfschmerzen, ganz so, als wollte man das Gesehene gedanklich nicht verarbeiten.


Als Nada Frank dazu überreden will, die Brille aufzusetzen, kommt es zwischen den beiden zum Kampf. Hier merkt man Pippers Wrestling-Erfahrung, aber auch David kann wirklich gut mithalten. Der knapp sechs Minuten lange Kampf zwischen den beiden ist hervorragend choreografiert und gehört für mich zu den besten waffenlosen Zweikampfszenen, die ich kenne.

Wer sind die Fremden?

Dass es John Carpenter nicht unbedingt darum ging, eine außerirdische Invasion zu zeigen, sondern darum, uns den Spiegel vorzuhalten, merkt man auch daran, dass wir wenig über die Außerirdischen erfahren.

Sie sehen fast aus wie gehäutete Menschen, ganz so als ob wir uns selbst bloßgelegt hätten und jene intimen Dinge offenbaren, die unter unserer Haut verborgen sind.
Die Außerirdischen reisen nicht mit Raumschiffen, sondern besitzen ein Transportsystem, das es ihnen ermöglicht, in kurzer Zeit zwischen Welten und sogar Galaxien – im Film wird die Andromedagalaxie genannt – hin und her zu pendeln.

Wie lange sie schon auf der Erde sind, erklärt der Film nicht. Wir lernen auch keine Individuen näher kennen, sondern nur die Menschen, die mit ihnen kollaborieren.
Die Außerirdischen sind Stellvertreter von unmenschlichen Menschen, die vom Wahn des ständigen Wirtschaftswachstums regelrecht besessen sind. Diese Menschen sehen nur noch die Vermehrung ihres eigenen Kapitals, das sie zu Lebzeiten doch nicht ausgeben können. Hier verkommt die Kapitalvermehrung zum Selbstzweck. Sinnlos vergeuden diese Wesen ihre Zeit, um einen Traum hinterher zu hetzen, den sie auf diese Weise nie erreichen können: einen tieferen Sinn im Leben finden.

Am Ende sind Nada und Frank die Terroristen, die Verbrecher, denn hinter den Außerirdischen steht eine mächtige Medienpräsenz, ein großer TV-Sender, der sie als solche brandmarkt. Die Bilder der Nachrichten sprechen für sich. Nada, der um sich schießt. Jedoch unterschlagen sie, dass er lediglich die Invasoren anvisiert. Nur zu gerne lassen sich die Zuschauer von den Worten und Bildern der großen Medien einlullen.

Fazit

Das Thema von Sie leben ist nach wie vor bedrückend aktuell und wird wahrscheinlich zeitlos sein, solange es Menschen gibt. Trotzdem ist der Film keine reine Dystopie, sondern macht auch Hoffnung, scheinbar unüberwindliche Machtstrukturen zu brechen und aufzulösen. Doch das erfordert Mut und Opferbereitschaft.

Sie leben ist für mich einer der besten Außerirdische-Invasoren-Filme überhaupt, obwohl sein Budget weit unter dem dem themenverwandter Blockbuster liegen dürfte. Der Humor ist schwarz, die Figuren geerdet. Sie sind ‚Jedermann‘.

Große Helden oder heldenhafte, mächtige Männer wie z. B. in Independence Day, wo sich Präsident und Flieger-Ass die Hand geben, wird man hier nicht finden. Und gerade das macht diesen Film so menschlich.

Sie Leben ist auf Blu-ray erhältlich.

Bildquelle: © Studiocanal

Quellen, weiterführende Links:

Spekulieren mit Lebensmitteln

https://www.swr.de/swrkultur/wissen/spekulieren-mit-lebensmitteln-die-spielregeln-der-agrarboersen-102.html

Wasser wird zum Lifestyleprodukt und Statussymbol

https://www.derstandard.de/story/3000000223203/wie-wasser-zum-lifestyleprodukt-und-statussymbol-wurde

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Über Michael Sagenhorn

Im bürgerlichen Leben: Michael Schnitzenbaumer, lebt in Poing bei München, mit seiner Frau Steffi und seinen beiden Kindern Tatjana und Sebastian. Beruflich ist er als Webentwickler tätig, und natürlich auch als Grafiker und Illustrator. Neben den Hobbys 'Fotografie', 'Reisen und 'Kochen' liest er für sein Leben gerne phantastische Romane. Sofern es seine Zeit zulässt, spielt er auch mal gern ein Computerspiel. Was ich mag! Zusammenhalt, Hilfsbereitschaft, Empathie, Romantik - Ohrenstöpsel und Tante Gretels Apfelkuchen. Was ich nicht mag! Verrat, Geldgier (obwohl ich gegen Geld oder Reichtum gar nichts einzuwenden habe), Egomanie - früh aufstehen.

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