
Die Schöne und das Biest trifft Ready Player One. Parallelen garantiert beabsichtigt. Das beschreibt den hochwertig gezeichneten Anime von Mamoru Hosoda sehr treffend. Gerade an Disneys legendären Trickfilmklassiker musste ich beim Zuschauen denken. Zu offensichtlich ist im Anime z. B. die Tanzszene von Belle und Biest im großen Ballsaal des Schlosses.
Es wird auch fleißig gesungen, doch auch wenn manche Songs zu Herzen gehen können, an die kraftvollen Lieder von Disneys Die Schöne und das Biest kommen sie nicht heran.
Andere Elemente hingegen setzt der Film besser um als die Disney-Meisterwerke. So zeigt Belle einen sich realistisch verhaltenden dreibeinigen Hund, dessen Gebrechen auch wirklich spürbar ist, nicht wie im darauf folgendem Jahr entstandenen Disney-Film Strange World, in der ein dreibeiniges Hundekunstprodukt nur der ‚Repräsentation‘ wegen hineingezeichnet wurde, aber ansonsten ganz normal springt und tollt, als wären drei Beine ebenso gut wie vier.
Belle ist kein Abklatsch US-amerikanischer Kassenschlager. Auch wenn er sich ganz offen von ihnen inspirieren lässt, geht er einen eigenen Weg mit einer eigenen Geschichte.
Handlung
Die Schülerin Suzu hat schon in jungen Jahren ihre Mutter verloren. Die ist bei einer mutigen Rettungsaktion ums Leben gekommen, als sie sich in die Fluten eines reißenden Flusses stürzte, um ein kleines Mädchen vor dem Ertrinken zu bewahren. Seitdem lebt Suzu allein mit ihrem Vater in einem Haus am Rande der Berge. Von ihrer einstigen Fröhlichkeit ist nicht viel geblieben. Sie hält sowohl ihren Vater als auch ihren Freund aus Kindertagen auf Distanz. Ist meist still und in sich gekehrt. Nur zur sarkastischen Hiroka hat sie ein freundschaftliches Verhältnis.
Hiroka stellt ihr die App „U“ vor, mittels der man eine virtuelle Welt betreten kann. „U“ setzt modernste Bodysharing-Technologie ein, die es den Menschen ermöglicht, einen individuellen Avatar zu gestalten. Suzus Avatar nennt sie Belle – eigentlich will das Mädchen ihn nicht ableiten von dem englischen Wort für ‚schön‘, sondern von ihren Namen ‚Suzu‘, einem japanischen Wort für ‚Glocke‘, also auf Englisch „Bell“. Doch die App macht „Belle“ daraus.

Als Belle betritt Suzu „U“, die grenzenlos scheinende Cyberwelt, deren Accounts bereits die Marke von 5 Milliarden User gebrochen hat und ständig weiterwächst. Damit ist „U“ die bisher größte Plattform in der Geschichte des Internets.
Hier ist alles möglich. Obwohl das schüchterne Mädchen seit dem Tod ihrer Mutter ihre Stimme zum Singen verloren hat, beschließt sie trotz der zahllosen Besucher, zwischen gigantischen Wolkenkratzern schwebend, zu singen.
Mit der Schönheit ihres Gesangs und ihrer enormen Ausstrahlung gelingt es Belle in kürzester Zeit Millionen Follower zu generieren und zum größten Star der Plattform aufzusteigen.
Derweil kennen in der realen Welt nur wenige die wahre Identität des Superstars. Hiroka übernimmt Belles Management. Sie plant ein großes Konzert in einer riesigen Kugel. Gerade als sich alle User dort versammelt haben und Belle zum Singen ansetzten will, wird der gewaltige Dome von einem Eindringling durchdrungen. Ein großes Monstrum erscheint, verfolgt von der Gerechtigkeitstruppe, einer selbst ernannten Online-Polizei. Das Monstrum ist Biest, einer der mächtigsten Kämpfer der Plattform. Es kommt zum Kampf zwischen dem Monster und seinen Jägern. Damit ist zwar der Konzertabend zerstört, doch die Begegnung zwischen Belle und Biest öffnet ein neues Kapitel in dem Leben der beiden …
Geheimnisvolle grenzenlose Welt
Wir erfahren nicht viel über „U“. Das ist sowohl positiv als auch negativ. Um die Story zu verstehen, ist der Hintergrund zur Cyberwelt nicht wichtig. Hier wird nicht viel drumherum erzählt, sondern sich ganz und gar auf die Geschichte von Belle und Biest konzentriert. Vor allem auf deren Innenleben. Das macht die Geschichte nahbar und die Charaktere liebenswert.
Letzten Endes erleben wir keine Geschichte, in denen technische Errungenschaften gepriesen werden, sondern eine Geschichte die erzählt, wie trotz dieser Errungenschaften wir immer wieder mit den gleichen Problemen kämpfen.
Wie bewältigen wir Trauer, Gewalt, Einsamkeit? Genau darauf versucht sich der fesselnde Anime zu konzentrieren.

Trotzdem ertappe ich mich dabei mehr über „U“ wissen zu wollen. Wer ist der Schöpfer? Welcher Konzern steckt dahinter? Man erfährt, dass die Erschaffer von „U“ alles Notwendige integriert haben, damit die Welt im Gleichgewicht bleibt und weiter besteht. Nicht die Schöpfer haben die Gerechtigkeitstruppe gegründet, sondern diese hat sich selbst ernannt und dient abseits von offiziellen Institutionen als Internet-Polizei.
Daher ist anzunehmen, dass sie ihre gefürchtete „Waffe“ ebenfalls selbst entwickelt haben. Ein Blaster ermöglicht es dem Trupp die geheimen Identitäten der User zu enthüllen, auf Neudeutsch: sie zu doxen. Sie jagen den für sie unbequemen Biest, um hinter dessen Identität zu kommen und ihn aus „U“ auszuschließen. Dabei werden sie von den Schöpfern weder unterstützt noch aufgehalten. Es ist eine wirklich freie Welt, in der die User ihre Regeln nach Belieben selbst gestalten können.
Biest zum Beispiel hat sich ein geheimes Schloss gebaut. Dort gibt es KI in Form von verschiedenen putzigen Wesen, die Biest freundlich gesinnt sind und alle unerwünschten Gäste vom Schloss weglocken.
Sowohl Belle als auch Biest sind verstärkte Avatare ihrer User. Es scheint, dass die Technologie, die diese Avatare erstellt, sich nicht nur an äußeren Merkmalen orientiert (Belle hat z.B. Sommersprossen wie Suzu. Würde man den japanischen Titel auf Deutsch übersetzten, würde er ungefähr lauten: Der Drache und die Prinzessin mit den Sommersprossen), sondern vor allem auch Wesenszüge und Eigenschaften auf die Avatare transportiert, um sie zu verstärken.

Besonders starke Einflüsse wie die Traumata von Suzu und Biest wirken wie ein Verstärker, denn sowohl Suzu als auch Biest synthetisieren ihre Avatare mit ihren negativen Erfahrungen, wobei die eine plötzlich wunderschön singt, der andere aber mit seiner unheimlichen Stärke nahezu jeden Gegner besiegt. Doch der Rücken von Biests Avatar ist übersät mit zahlreichen Narben. Rühren diese Narben vom Körper seines Users her oder von dessen Seele?
Dieses Geheimnis kann Suzu erst lüften, wenn sie Biests wahre Identität herausfindet.
Wenn man nicht aus seiner Haut kann
Suzu muss in sehr jungen Jahren miterleben, wie ihre Mutter stirbt. Sie entdecken bei einem Ausflug an einem, wie es scheint, Hochwasser führenden reißenden Fluss, ein Mädchen, das inmitten des Flusses auf einer kleinen Insel gestrandet ist.
Das Wasser steigt weiter, droht die Insel zu überfluten und das Mädchen mitzureißen. Suzus Mutter überlegt nicht lange. Sie bindet sich eine Rettungsweste um und stürzt sich in die Fluten, obwohl Suzu sie flehentlich bittet, es nicht zu tun. Am Ende wird das Mädchen gerettet. Suzus Mutter hat ihr die Rettungsweste umgebunden und damit ihren eigenen Tod in Kauf genommen. Sie ist in den tosenden Fluten verschwunden.
Suzu verzeiht ihrer Mutter nicht, dass sie sie für ein fremdes Mädchen allein gelassen hat. Sicher ist die Angst vor erneutem Verlust auch der Grund, warum sie Menschen, die ihr nahe stehen, auf Distanz hält.
Suzus Gefühle sind für mich absolut verständlich und plausibel und ich würde tatsächlich so weit gehen zu sagen, dass Suzu jedes Recht hat, auf ihre Mutter sauer zu sein. Suzus Mutter hat sich ganz bewusst dafür entschieden, für das fremde Mädchen zu sterben und ihre Tochter alleine zu lassen. Keiner hätte ihr keine übel genommen, wenn sie am Ufer geblieben wäre, trotzdem opferte sie vor den Augen ihrer Tochter ihr Leben für ein fremdes Kind.
Was die kleine Suzu er später lernt: Ihre Mutter MUSSTE so handeln. Menschen wie Suzus Mutter hätten nicht mit dem Bewusstsein weiterleben können, dass ein hilfloser Mensch stirbt, obwohl man vielleicht in der Lage gewesen wäre, diesen Menschen zu retten. Solche Menschen müssen handeln, auch wenn es sie das Leben kostet, auch wenn es bedeutet, dass sie geliebte Menschen in Stich lassen müssen, denn genau das hat die Mutter getan. Sie hat Suzu in Stich gelassen.
Hätte aber Suzus Mutter aus Rücksicht auf Suzu anders gehandelt, wäre sie hinterher nicht mehr dieselbe gewesen. Ein Leben lang hätte sie der Gedanke gequält, keinen Rettungsversuch unternommen zu haben. Sie hätte sich die Verantwortung für den Tod eines kleinen Mädchens gegeben – zurecht, denn sie hat am Ende den Tod des Mädchens verhindert.

Es ist eine schonungslose Situation, die die Geschichte ihren Figuren da zumutet. Aber genau diese Situation ist der Impuls für die gesamte Handlung. Suzu kann durch das erlittene Trauma nicht mehr singen und zieht sich immer weiter zurück. Erst in „U“ findet sie ihre Singstimme wieder und wird dort katalysiert durch ihren Kummer und Schmerz, zu einem Star.
Auch sie wird später alles versuchen, einen Menschen zu retten, jenen Menschen, dem sie sich öffnen möchte, den sie aber nicht kennt. Nicht in der Gestalt eines hilflosen kleinen Mädchens kommt er daher, sondern in der eines zahnbewehrten zornigen Riesen, der ebenso abweisend ist, wie sie selbst.
Fazit
Belle vereint die Herausforderungen, denen sich besonders junge Menschen in unserer neuen Zeit stellen müssen mit Problemen, die uns schon immer betroffen haben. Herausgekommen ist ein anrührendes Sci-Fi Märchen.

Neben dem Weg der Selbstfindung und Hinterfragung des eigenen Werts werden die Protagonisten auch mit der Bewältigung von Trauer und Schmerz konfrontiert, in einer Welt, in denen sich die Menschen bequem hinter Masken zurückziehen können, um ihre Person zu verbergen. Das Individuum weicht in „U“ der großen Masse, die sich nicht in die Karten schauen lässt. Nur hinter der Maske ist es noch möglich, sich selbst zu entfalten, doch wahre Selbstentfaltung, das zeigt der Film, wahre Sprengung der eigenen Grenzen ist nur dann möglich, wenn man den Mut aufbringt, die Maske fallen zu lassen.
Belle ist auf Blu-ray und DVD erhältlich.
Originaltitel: Ryū to Sobakasu no Hime. Science-Fiction, Anime. Japan 2021. 121 Minuten. Regie: Mamoru Hosoda. Drehbuch: Mamoru Hosoda. FSK 12
Bildquelle: © Plaion Pictures